zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Die hohe Kunst der Blockade

An allen Ecken und Enden kracht es im deutschen Sozialsystem, doch Veränderungen sind schwer durchzusetzen

Wenn die Bundesregierung dem Jahr 2003 ein Motto verleihen könnte, würde sie es mit Sicherheit das „Jahr der Reformen“ nennen. Die Hartz-Reformen am Arbeitsmarkt sind in Teilen zum Jahreswechsel in Kraft getreten und werden im Laufe des Jahres vollständig umgesetzt. Sozialministerin Ulla Schmidt bereitet im Gesundheitswesen in diesen Wochen eine Strukturreform vor. Nur beim Thema Rente sind sich SPD und Grüne nicht einig, ob schon in diesem Jahr grundlegende Reformen auf den Weg gebracht werden müssen – oder doch erst in 15 Jahren. Welche Baustellen der Sozialversicherungssysteme werden in diesem Jahr ernsthaft beackert?

Gedrängt durch die ständig schlechten Nachrichten vom Arbeitsmarkt und den Vermittlungsskandal in den Arbeitsämtern im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung Arbeitsmarktreformen auf den Weg gebracht. Die Kernpunkte: schnellere Meldung und intensivere Vermittlung, die Ausweitung der Zeitarbeit über Personal-Service-Agenturen bei den Arbeitsämtern, eine neue Form der Selbstständigkeit, mit der die Schwarzarbeit abgebaut werden soll, und eine deutliche Ausweitung von steuerlich und sozialabgabenbegünstigten Minijobs.

Auf dem Arbeitsmarkt bleibt vor allem ein großes Projekt für die Reformagenda im Jahr 2003: die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Wer erwerbsfähig ist, soll in Zukunft keine Sozialhilfe mehr erhalten, sondern eine neue Form des Arbeitslosengeldes, das auch Beziehern von Arbeitslosenhilfe zustehen soll. Damit soll das Gewirr zwischen beiden Leistungen entflochten werden. Bis es soweit ist, werden allerdings noch mehrere Monate ins Land gehen. Denn bis zum Sommer muss zunächst eine Kommission unter Leitung des Arbeits- und Finanzministeriums die Details erarbeiten.

Größte Baustelle ist die Gesundheit

Ernst wird es in diesem Jahr vor allem im Gesundheitswesen. Im Februar will Ministerin Ulla Schmidt Eckpunkte für eine Reform vorlegen. Die zentralen Inhalte: Schmidt will den Wettbewerb stärken. Krankenkassen sollen einzelne Verträge mit Ärztegruppen oder Kliniken abschließen können – eine Entmachtung der Kassenärztlichen Vereinigungen, deren Monopol damit geknackt wird. Denn bislang verhandeln sie allein mit den Kassen über Honorare und Leistungen und handeln Kollektivverträge in den Regionen aus. Außerdem will die Ministerin einen Hausarzttarif einführen. Versicherte, die sich verpflichten, generell bei ärztlicher Behandlung zunächst einen Hausarzt aufzusuchen, sollen einen Bonus auf ihren Kassenbeitrag erhalten.

Die Finanzierung der Krankenkassen wird Ulla Schmidt allerdings bei ihren Reformen erst einmal außer acht lassen. Denn damit ist ja die Rürup-Kommission zur Sicherung der Sozialsysteme beauftragt, die erst im Herbst ihre Ergebnisse vorstellen wird. Die Milliarden-Defizite der gesetzlichen Krankenversicherung waren auch dafür verantwortlich, dass zum Jahreswechsel viele Kassen ihre Beiträge erhöht haben. An dieser Stelle droht Streit: Union und einige Experten der Rürup-Kommission fordern mehr Eigenbeteiligung oder Beitragsrückerstattung in den gesetzlichen Kassen. Auch das Kanzleramt liebäugelt mit dieser Idee. Ulla Schmidt allerdings will sich nur auf Versuche von Krankenkassen beschränken, mit neuen Beitragsmodellen gesundheitsbewusstes Verhalten zu belohnen.

Noch vor Ostern will Ulla Schmidt ihren Gesetzentwurf zur Strukturreform ins Parlament einbringen. Dass sich die Pläne aber im Eiltempo durchdrücken lassen wie bei Hartz, ist unwahrscheinlich. Denn die Union, die spätestens im Bundesrat ein Wörtchen mitzureden hat, wird das verhindern. Auf die Zustimmung der unionsdominierten Länderkammer ist Rot-Grün angewiesen.

Starke Umbrüche stehen der Pflegeversicherung bevor. Die Botschaft der Sozialministerin an die Experten der Rürup-Kommission war eindeutig. „Es wird sehr stark Eigenverantwortung gefordert sein“, gab sie den Experten mit auf den Weg. „Das finanzielle Polster schwindet.“ Ursprünglich auf den Weg gebracht, um Pflegebedürftige aus der Sozialhilfe zu holen, wurde dieser neue Zweig der Sozialversicherungen im Jahr 1995 eingerichtet. In Zukunft stehen Leistungseinschnitte bevor, deutet Ulla Schmidt mit der „Eigenverantwortung“ an. Ihr ist klar: Die Zahl der Bedürftigen wächst ständig, aber ein Anheben des Beitragssatzes von derzeit 1,7 Prozent wäre nicht gerade ein Beitrag zur Senkung der Lohnnebenkosten.

Trotz der aufgeregten Debatte um eine Rentenreform wird die rot-grüne Koalition in diesem Bereich voraussichtlich am wenigsten tun. Von einer Heraufsetzung des Renteneintrittsalters oder höheren Abschlägen bei einer Frühverrentung halten viele Sozialdemokraten nichts. Auf der Agenda stattdessen: ein bisschen Nachbessern an der Riester-Rente. Es sei denn, der Kanzler spricht noch ein Machtwort.

Zur Startseite