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Wirtschaft: Die Kehrseite des amerikanischen Jobwunders

WASHINGTON .Amerikanische Zeitungsleser hatten Anlaß zur Verwunderung, ja, Grund zum Neid.

WASHINGTON .Amerikanische Zeitungsleser hatten Anlaß zur Verwunderung, ja, Grund zum Neid.Am gleichen Tag, an dem der US-Flugzeughersteller Boeing in Seattle Produktionseinschränkungen und Massenentlassungen ankündigte, gab das europäische Airbus-Konsortium in Toulouse bekannt, daß es einen mächtigen Auftragsüberhang von 1300 Maschinen habe und im kommenden Jahr die Produktion um 30 Prozent ausweiten wolle.Boeing dagegen muß, weil die Aufträge aus Fernost zurückgehen, neben den bereits geplanten Entlassungen von 20 000 Mitarbeitern weitere 28 000 Stellen in Seattle und Everett streichen.

Gäbe es eine Kooperation zwischen dem einst übermächtigen amerikanischen Flugzeughersteller und seiner europäischen Konkurrenz, müßte ein arbeitsmarktpolitisch inspirierter Vorschlag lauten: Schickt doch die Leute aus dem amerikanischen Nordwesten in die europäischen Werkshallen in Toulouse oder in Finkenwerder.Aber so viel Flexibilität herrscht am internationalen Arbeitsmarkt noch nicht.

Wie aber ist zu erklären, daß die Arbeitslosigkeit in den USA sinkt, während gleichzeitig Großunternehmen Massenentlassungen ankündigen? Da ist die Arbeitslosenquote im November von 4,6 auf 4,4 Prozent gefallen, aber der Arbeitsplatzabbau soll, wie bei Boeing, fünfstellige Größenordnungen erreichen.Offenbar steigt mit der Größe eines Unternehmens die Zahl der Mitarbeiter, deren Jobs bei Konsolidierungsmaßnahmen, bei Fusionen oder schlechterem Geschäftsgang gefährdet sind, exponentiell an.

Einerseits nimmt Bill Clinton das "Jobwunder" für sich in Anspruch, weil unter seiner Präsidentschaft seit Beginn des Jahres 1993 mittlerweile 15 Millionen Arbeitsplätze geschaffen wurden - ähnlich wie in der achtjährigen Präsidentschaft Ronald Reagans, der sogar 20 Millionen neue Jobs in seine Erfolgsbilanz eintragen konnte.Andererseits: Keine Unternehmensfusion in der allgemeinen Merger-Manie - vom gigantischen Zuschnitt der Ölkonzerne Exxon/Mobil bis zur transatlantischen Finanzhochzeit Deutsche Bank/Bankers Trust -, bei der nicht auch Kosteneinsparungen durch den Abbau Tausender Stellen gesucht würden.

Doch auch ohne Fusionen trimmen amerikanische Unternehmen ihre Kostenrechnung durch Entlassungen.Die sind manchmal so spektakulär wie bei Boeing und addieren sich schnell auch zu Hunderttausenden: 70 000 beim Autoriesen General Motors, 4300 beim Chemieproduzenten Johnson & Johnson oder beim Fotounternehmen Kodak.

Wo kommen angesichts dieser Horrormeldungen die vielen neuen Arbeitsplätze her? Wie sind die 267 000 neu geschaffenen Jobs im November zu erklären? Natürlich, in der beginnenden Weihnachtssaison braucht der Einzelhandel Personal: 65 000 wurden nach Angaben des US-Arbeitsministeriums schon im November eingestellt.Während der produzierende Sektor im Vormonat 47 000 Arbeitsplätze abbaute - insgesamt fast eine viertel Million seit dem vergangenen Frühjahr -, haben Dienstleistungsunternehmen 55 000 neue Jobs geschaffen.Das ist das eigentliche Geheimnis des "Jobwunders": Die Kleinunternehmen, die flexibel auf Nachfrage nach neuen Waren und Dienstleistungen reagieren.Sie brauchen neue Mitarbeiter, wenn sie wachsen wollen.Die Großkonzerne, die in ihrem Gigantismus oft unbeweglich geworden sind, müssen sich entschlacken, entlassen also Beschäftigte.Das Wachstum der Kleinunternehmen hat zum einen etwas zu tun mit der Bereitschaft zum Risiko, zum anderen aber auch mit den Rahmenbedingungen in der amerikanischen Wirtschaft.

Natürlich gibt es eine Bürokratie, die mitunter an Kafka erinnert und sich selbst gelegentlich lahmlegt.Aber grundsätzlich wird die Freiheit des Unternehmers in den USA anders interpretiert als in Europa.Keine Ladenschlußzeiten hindern ihn daran, sein Geschäft 24 Stunden am Tag offenzuhalten.Die großen Handelsketten können Jugendliche oder Behinderte für einfache Serviceleistungen einstellen - daß von ihrer Bezahlung eine Familie nicht ernährt werden kann, wissen alle, verlangt aber auch niemand.

Dazu kommen die Eigenarten gewerkschaftlicher Organisation in den USA.Übergreifende Branchengewerkschaften - wie in Deutschland - sind selten.Meistens bestehen in jedem Unternehmen eigene Organisationen, die mit dem Management über Tarifverträge verhandeln.Manchmal gibt es sogar mehrere Gewerkschaften in einem Unternehmen.Bei Fluggesellschaften etwa gibt es mindestens drei: eine für die Piloten, eine für die Bodentechniker und eine für das Kabinenpersonal.

Aber entgegen gelegentlicher spektakulärer Arbeitskampf-Meldungen ist die Streikbereitschaft amerikanischer Beschäftigter nicht sehr groß.Ein Beispiel dafür war der schnell wieder abgeblasene Arbeitskampf der Piloten des Paketversenders Federal Express: Als die Unternehmensleitung damit drohte, die Sendungen in der Vorweihnachtszeit einfach durch andere Unternehmen befördern zu lassen, war es mit der Kampfbereitschaft der Flugzeugführer schnell vorbei.Denn sie mußten um ihren Arbeitsplatz fürchten - in der Zeit nach dem Streik.

DIETRICH ZWÄTZ (HB)

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