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Verständnisvolle Chefin. Christel Pisarek (links) gibt Schuhmacher Gerd Kampmann frei, wenn er seine Mutter pflegt.

© Rückeis

Vereinbarkeit von Pflege und Beruf: Die Pflege der anderen

Immer mehr Firmen unterstützen Mitarbeiter, die Angehörige betreuen – und profitieren selbst davon. Bei zunehmendem Fachkräftemangel bringt ihnen das einen Vorteil im Wettbewerb um qualifiziertes Personal.

Orthopädiemeister Gerd Kampmann fährt jedes Wochenende nach Freiburg, um seine Mutter zu pflegen. Wenn er freitags früher los muss oder Montag später in die Werkstatt kommt, drückt seine Chefin ein Auge zu. „Ich bekomme nicht nur frei, sondern sogar die Bahnfahrt geschenkt“, sagt der 54-Jährige. Dafür arbeite er auch mal am Sonntag, um Schuhe pünktlich fertigzustellen. Für Christel Pisarek, die Inhaberin des O.T. Sanitätshauses in Halensee, ist es „ganz normal, dass ein Kind mal zum Arzt muss oder die betagte Mutter Hilfe braucht“. Wichtig sei nur, dass die Arbeit gemacht wird. Sie begrüßt, dass ihre 22 Mitarbeiter sich gegenseitig vertreten und hilft gerne mit zusätzlichem Mutter- oder Vaterschaftsurlaub sowie flexiblen Arbeitszeiten.

Beschäftigte mit älteren Angehörigen brauchen gute Rahmenbedingungen, um ihre beruflichen und familiären Pflichten zu vereinbaren. Bereits heute gibt es in Deutschland über zwei Millionen Pflegebedürftige, von diesen werden laut Statistischem Bundesamt 1,5 Millionen in Privathaushalten gepflegt. Gezählt werden allerdings nur Fälle, in denen Betroffenen eine Pflegestufe nach dem Sozialgesetzbuch XI zugestanden wurde. Darüber hinaus gibt es viele Bedürftige, die keine staatlichen Leistungen erhalten. Die Zahl der Pflegefälle steigt: Modellrechnungen zeigen, dass es im Jahr 2030 wegen des demografischen Wandels 58 Prozent mehr Bedürftige geben wird. In Berlin betreuen derzeit etwa 170.000 Menschen einen Angehörigen.

Arbeitgeber, die etwas für die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Pflege tun, profitieren davon. Familienbewusste Personalpolitik ist bei zunehmendem Fachkräftemangel längst ein Vorteil im Wettbewerb um qualifiziertes Personal. Die Industrie- und Handelskammer (IHK), die Handwerkskammer, der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Berliner Beirat für Familienfragen starteten vor kurzem eine Initiative: Sie setzen sich beispielsweise für Beratungsangebote ein, um Firmen bei flexiblen Arbeitszeiten, Job-Sharing, Telearbeit, Sabbaticals, betrieblicher Gesundheitsförderung und Kinderbetreuung zu unterstützen.

Gerade Handwerksfirmen seien gute soziale Rahmenbedingungen ein Erfolgsfaktor

In einem Wettbewerb wurden zudem vier familienfreundliche Unternehmen ausgezeichnet. Einer der Sieger, die Wissenschaftliche Gerätebau Dr. Ing. Herbert Knauer GmbH in Zehlendorf, bietet seinen 103 Mitarbeitern viele Maßnahmen an – von der Kindernotfallbetreuung am Arbeitsplatz über Teilzeitvereinbarungen für Alleinerziehende bis zur Telearbeit für Führungskräfte. „Der Wettbewerb hat gezeigt, dass es bereits eine Menge gute Beispiele gibt, wie Beruf und Familie vereinbart werden können“, sagt Jürgen Wittke, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer. Gerade für die rund 32.000 Handwerksfirmen, die zu etwa drei Vierteln Familienbetriebe sind, seien gute soziale Rahmenbedingungen ein Erfolgsfaktor.

„Alle 30 Unternehmen, die am Wettbewerb teilgenommen haben, nutzen anschließend die Möglichkeit, sich in einem Workshop zur praktischen Umsetzung familienfreundlicher Unternehmensführung auszutauschen“, sagt Peter Ruhenstroth-Bauer, der Vorsitzende des Familienbeirats. Veranstaltet wurde der Workshop gemeinsam mit dem bundesweiten Netzwerk „Erfolgsfaktor Familie“, dem rund 150 Berliner Firmen angehören. Thomas Letz, Wirtschaftspolitikexperte der IHK Berlin, sieht ebenfalls viele ermutigende Beispiele für familienfreundliche Betriebe. Aber erst seit etwa zwei Jahren gewinne das Thema Pflege an Bedeutung. Die IHK veranstaltet in diesem Jahr einen neuen Unternehmertreff, in dem es auch darum gehen wird.

Bei Freistellung wird ein Teilzeitgehalt gewährt, das die Beschäftigten später nacharbeiten.

Zu den Vorreitern gehört die Berliner Stadtreinigung. „Seit eineinhalb Jahren bauen wir ein Familiennetzwerk auf, das Mitarbeiter bei der Kinderbetreuung und der Vermittlung von Pflegediensten unterstützt“, sagt Georg Heidel von der Gesundheits- und Sozialberatung der BSR. Hinzu kommen Informationsveranstaltungen zur Pflege oder Hilfsmöglichkeiten bei beginnender Demenz. Die Ergo-Versicherungsgruppe reagiert ebenfalls auf die wachsende Doppelbelastung ihrer Mitarbeiter. So können sich Beschäftigte zur Pflege von Angehörigen ohne finanzielle Einbußen kurzfristig freistellen lassen. Die „Familienphase“ gliedert sich in eine Freistellungs- und eine Arbeitsperiode: Zuerst gewährt der Arbeitgeber ein Teilzeitgehalt, für das die Beschäftigten später nacharbeiten.

Bei den Berliner Verkehrsbetrieben können sich Beschäftigte in Pflegenotsituationen kurzfristig bis zu zehn Tage unbezahlt von der Arbeit freistellen lassen – so ist es im Pflegezeitgesetz verankert. Möglich ist außerdem eine sozialversicherte, aber unbezahlte Pflegezeit, die bis zu sechs Monate dauern kann. In dieser Zeit besteht ein Anspruch auf Pflegegeld von der Pflegeversicherung.

Auch Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) will die Belastung pflegender Angehöriger mit Kuren auf Kassenkosten und neuen Versicherungsleistungen mindern. Soeben kündigte er einen Gesetzentwurf bis Mitte des Jahres an.

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