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Wirtschaft: Digitale Freundschaften - leicht zu sammeln, leicht zu entsorgen

TOKIO . Kanako Yonemura prahlt mit einer Unzahl von Freunden, an die sie sich jederzeit und überall wenden kann.

TOKIO . Kanako Yonemura prahlt mit einer Unzahl von Freunden, an die sie sich jederzeit und überall wenden kann. Allerdings hat sie von den meisten dieser Freunde nur einen Spitznamen und eine Telefonnummer, die in ihrem Handy gespeichert sind. Denn für die 17jährige japanische Schülerin ist Freundschaft ebenso tragbar und wegwerfbar wie die Handys, mit denen sie diese knüpft - willkommen zur Handyrevolution japanischen Stils.Seit billige Handys den japanischen Markt überschwemmen, sind sie der letzte Schrei unter Jugendlichen geworden. Neben Yonemura haben Tausende anderer Teenager jeden Tag kurze, anonyme Begegnungen über das Handy. "Oft weiß ich nicht mehr, wer wer ist", sagt Yonemura. "Wenn das passiert, lösche ich einfach die Namen im Speicher des Handys." Immer, wenn sie sich ein neues Handy kauft, füllt sie den digitalen Speicher mit etwa 300 Nummern.Die digitalen Brieffreunde kommunizieren viel über sogenannte Kurzmitteilungen, eine Art E-Mail von Handy zu Handy. Rasch hat sich ein Jugendlicher eine wahre Sammlung an Handyfreunden zugelegt. Die Teenager reichen ihre Sammlung digitaler Freunschaften weiter. Einige besorgen sich sogar Listen mit Telefonnummern aus dem Internet. Der virtuelle Freundeskreis ist so groß, daß sich Haruka Watanabe manchmal ein bißchen wie eine Sklavin ihrer Handyfreunde fühlt. Die 17jährige Schülerin verschickt jeden Tag etwa 70 Kurzmitteilungen. Sie ertappt sich dabei, ständig auf ihr Telefon zu gucken oder es zu berühren. Sonst "fühle ich mich vom Zentrum des Geschehens abgetrennt", sagt sie.Die Besessenheit der Jugendlichen zeigt, wie stark die Handys in Japan Einzug gehalten haben. 31 Prozent der Bevölkerung habe ein tragbares Telefon, erklärt das britische Unternehmen Baskerville Communications. Beliebt sind bei den Jugendlichen vor allem elegante leichte Handys in metallischen Farben, die zwischen 150 bis 200 Dollar kosten. Wieviele japanische Teenager digitale Freundschaften pflegen, ist nicht bekannt. Doch täglich würden im Schnitt etwa vier Mill. Handy-Kurznachrichten in Japan gesendet, sagt der größte japanische Mobilfunkdienst NTT Mobile Communications Network. Zwar fördern Handyunternehmen nach eigenen Angaben nicht elektronische Freundschaften, aber entmutigen tun sie die Teenager sicherlich auch nicht. Es sei "eine wirklich kreative Nutzung" des Handys, sagt ein Sprecher von NTT Mobile.Den kreativen Umgang mit dem Handy pflegen Schüler auch während des Unterrichts. Einige haben es zur Meisterschaft im Zehnfingersystem gebracht. Sie tippen ihre Nachrichten, wenn das Handy im Rucksack versteckt ist oder gar während sie es hinter dem Rücken halten. Die meisten Mitteilungen seien "geistlos" und "ein Mittel, um die Zeit totzuschlagen", sagt Yoshida. In der Regel seien es Kommentare oder Fragen wie "Was gibt es zum Mittagessen?" oder "Ich langweile mich". Wenn ein Handyfreund anfängt zu nerven, kann er leicht beseitigt werden. Das hat Yonemura dieses Jahr getan, als "Naoki", den Weg auf ihr Handy fand und nicht fortgehen wollte. "Er hat mich Tag und Nacht belästigt", sagt Yonemura.Das digitale Brieffreundschaft-Universum entstand vor vier oder fünf Jahren, als kleine Funkgeräte mit Mailmöglichkeiten der Hit bei japanischen Kindern wurden. Sie nannten ihr Funkgerät Merutomo - Mail-Freund - und tauschten über das Funkgerät kurze Nachrichten aus. Als die Preise von Handys mit Maileinrichtung sanken, ging der Merutomo auf Handys über.Die ausufernden Cyberfreundschaften werden nicht von allen gern gesehen. Handys und das Internet machten es für Teenager möglich, direkten Kontakt mit Menschen zu vermeiden und sich in die Anonymität zurückzuziehen, merkt der Soziologe Nobuko Awaya kritisch an. "Was werden sie später einmal als Eltern tun, wenn sie ihre Kinder zur Ordnung rufen müssen?", fragt Awaya. "Ihnen ein E-Mail schicken?". Es ist gerade die Anonymität der Handy-Beziehungen, die japanischen Kindern gefällt. Es sei für sie eine Möglichkeit, mit anderen intime Fragen zu besprechen. "Es ist sehr befreiend", sagt die Schülerin Kumi Taniguchi. Vor wichtigen Entscheidungen berät sie sich mit ihren Handy-Freunden. "Ich kann meinen Eltern und Freunden nicht meine verletzlichen Seiten zeigen", sagt sie, "dagegen macht es mir die Anonymität des Merutomos einfacher, meine tiefsten Gefühle auszudrücken."

Übersetzt und gekürzt von Birte Heitmann (Bangemann), Svenja Rothley (EU-Osterweiterung) und Karen Wientgen (Handy-Freundschaften, Goldverkauf)

NORIHIKO SHIROUZU

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