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Wirtschaft: Earny Thiemann

(Geb. 1957)||Wenn andere die Nerven verloren, sagte er: „Aber macht doch Spaß, oder?“

Wenn andere die Nerven verloren, sagte er: „Aber macht doch Spaß, oder?“ Braune Ledersessel mit kantigen, hohen Armlehnen. Dahinein kamen die Gäste, wenn sie Earny Thiemann in seinem Büro besuchten. Hinaus kamen sie nur schwer. Man fühlt sich in diesen Sesseln wie James Bond in der Weltherrschaftszentrale von Dr. No. Earny würde jetzt breit durch seinen Seelöwenbart grinsen – „Möchten Sie ihren Martini geschüttelt oder gerührt?“

Big Earny, ein baumlanger Kerl aus Telgte im Münsterland, liebte es locker, weil das Geschäft, dem er sich verschrieben hatte, nur mit Lockerheit zu ertragen ist: Die aktuelle Fernsehberichterstattung. Klingt harmlos, ist aber hoch prekär, wenn man die Augen mal vom Bildschirm wegbewegt, dorthin, wo die dicken Kabel für Kameras und Beleuchtung liegen, wo die riesigen Sattelschlepper stehen, vollgepackt mit Übertragungstechnik und elektronischen Schnittplätzen. Eine Zauberwerkstatt zur Erzeugung von Wirklichkeits-Illusionen. Und Earny, der Bilderströmungsdirigent, auf dem Thron des Meisters.

Zu seinen beruflichen Höhepunkten gehörten die Bundestagswahlen. Nach Schließung der Wahllokale wollen fast alle großen Fernsehsender der Welt live aus dem Berliner Reichstag berichten. Da genügt es nicht mehr, bewegte Bilder in alle Himmelsrichtungen zu versenden, Da möchte jeder Korrespondent sein eigenes Bildmenü verschicken, dazu noch Ton, und natürlich müssen Kameras auf allen Wahlpartys zeitgleich Emotionen übertragen. Die Satelliten funken an ihrer Kapazitätsgrenze, und unten, auf der Erde, sitzt Earny in einem Containerbüro und überwacht die Luftfracht.

So ein paar Minuten aktuelles Weltfernsehen kosten ein Vermögen. Wenn dann weiße Glitzerpunkte durch die bunten Bildern spratzten, klingelte Earnys Telefon, und irgendein Programmdirektor, der von den physikalisch-technischen Abläufen keine Ahnung hatte, schimpfte aus allen Rohren. Earny erklärte in solchen Fällen sehr ausführlich technische Details, bis es am anderen Ende sehr still wurde.

Vor der Wahl im Herbst 2002 humpelte er auf Krücken ins Paul-Löbe-Haus am Reichstag, um nach dem Rechten zu sehen. Ein paar Monate vorher hatte er sein Knie zertrümmert, als er beim Aufbau für eine Liveübertragung Spanplatten aus dem Weg räumen wollte. Die waren für einen Menschen deutlich zu schwer, doch Earny glaubte das erst, als ihm die Dinger aus den Händen rutschten. Fortan kam er im Rollstuhl zur Arbeit, bis er auf die bequemeren Krücken umsteigen konnte. Earny musste immer dabei sein, wenn etwas passierte. Sich mit seinem kranken Körper, gar seiner Person in ihrer Ganzheit und Komplexität zu beschäftigen, fand er wenig attraktiv. Wenn sein bester Freund und Kollege in der Morgendämmerung eines fernsehtechnischen Großereignisses die Nerven zu verlieren drohte, klopfte ihm Earny nur lächelnd auf die Schulter: „Aber macht doch Spaß, oder?“

Earny hatte ein humanistisches Gymnasium besucht, war nach dem Abitur erst mal nach Kolumbien gegangen, um das Leben nicht gleich an eine langweilige Karriere zu verschwenden. Danach musste er zum Bund, lernte Lkw fahren und bewarb sich mit dieser Qualifikation beim ORF-Studio in Bonn als Kurierfahrer. So fing das an mit dem Fernsehen.

In den achtziger Jahren besorgte sich Earny einen Ford Transit, den er zu einem Übertragungswagen ausbaute. Das war der Start für „E. P.“ – „Electronic Picture“, Earnys Fernsehproduktionsfirma. „E. P.“ lieferte Bilder für die ZDF-Sportschau und aktuelle Magazine. Wenn am Horizont erste Vorboten einer internationalen Konferenz heraufzogen, klopfte Earny schon mal bei seinen Auftraggebern an.

„Und der Papst — also wenn der stirbt, müssen wir sofort nach Krakau!“ Earny hörte ständig Radio und ließ seine Handys immer am Netz.

Dabei bekam er nie schlechte Laune. Auch nicht in Phasen extremer Beanspruchung, wenn zu viele Leute um ihn herumstanden, Leute, die was wissen wollen, noch mehr Leute, die was nicht verstehen, andere Leute, die was verbockt haben, und jetzt zerknirscht um Absolution bitten. Earny liebte das wuselige Chaos, aus dem, noch versteckt, eine geheime, von ihm komponierte Ordnung erwachsen sollte.

Nicht mal im Berliner Berufsverkehr regte er sich auf. Das lag auch an den gemütvollen Ami-Schlitten, die er bevorzugt steuerte. Legendär sein Oldsmobile, helle Ledersitze, 5,8 Liter Hubraum, 40 Liter auf 100 Kilometer, rechte Hand am Steuer, linker Ellenbogen aus dem offenen Fenster ragend. Das war noch zu seiner Bonner Zeit.

Earny tat Dinge, und siehe, sie waren recht getan. Viele zweifelten daran, dass die Kameras an der WM-Fanmeile im Tiergarten per Funk zu bedienen waren. Sie waren.

Man nannte ihn auch „seine Heiligkeit“, weil er dem Kölner Karneval verbunden war. Sein Handy meldete sich mit dem Narhallamarsch. Der Frohsinn und das Gesellige waren ihm auch an der Spree nicht auszutreiben.

Stiche am Herzen. Dann ein Spaziergang am Wannsee, als sie ein paar Stufen aufwärts gehen mussten, und er kaum noch Luft bekam. Diese Meldungen aus seinem Innern verstand Earny falsch. „Was von alleine kommt, geht auch von alleine.“ Also machte er weiter. Wegen der Atemnot wollte er wieder mehr trainieren, zu Hause an seinem Rudergerät. Dazu kam er nicht mehr.

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