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Wirtschaft: Editorials: Schröders Vision geht ins Leere

Entschuldigen Sie bitte die Verzögerung. Aber seien Sie versichert, wir haben unentwegt über Gerhard Schröders große EU-Reformrede in Nürnberg nachgedacht: Stärkung des Europaparlaments, Weiterentwicklung des Rats zu einer Staatenkammer, Ausbau der Kommission zu einer starken Exekutive.

Entschuldigen Sie bitte die Verzögerung. Aber seien Sie versichert, wir haben unentwegt über Gerhard Schröders große EU-Reformrede in Nürnberg nachgedacht: Stärkung des Europaparlaments, Weiterentwicklung des Rats zu einer Staatenkammer, Ausbau der Kommission zu einer starken Exekutive. Wie haben andere darauf reagiert? Der französische Europaminister Pierre Moscovici warnte vor Schröders deutschem, das heißt föderalem Weg. Der belgische Premier Guy Verhofstadt hieß den Vorschlag des Bundeskanzlers willkommen. Oppositionsführerin Angela Merkel nannte den Entwurf "unglaublich überzentralisiert". Und so ging es weiter hin und her. Wir führen nicht Buch über die verschiedenen Meinungen, um ein Endergebnis auszuzählen, sondern um eines deutlich zu machen: Schröders Vision für die EU führt ins Leere. Gleiches gilt für die Grundideen in Jacques Chiracs Rede vor dem Deutschen Bundestag oder Tony Blairs "Supermacht-statt-Superstaat"-Ansprache in Warschau. Es mangelt hier keineswegs an Kreativität, sondern einzig an Realitätsnähe.

Nun war abzusehen, dass Schröders radikale Reformpläne nicht nur auf Zustimmung stoßen. Wenn die Kommission die Führung übernimmt, entsteht ein Demokratiedefizit. Zwischenstaatlicher Regierungsgewalt fehlt Transparenz. Gegen die Idee von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten laufen die "langsamen" Staaten Sturm. Föderalismus ist zu deutsch, Dezentralisierung zu britisch, bestehende Vereinbarungen sind zu französisch. Unter diesen Voraussetzungen schleppt sich die EU mühsam voran. Aber die Schwachstellen sind offensichtlich. Kommissionsvorschriften werden mit großem Tamtam verabschiedet, nur um auf nimmer Wiedersehen zu verschwinden. Mitgliedsstaaten missbrauchen ihre Präsidentschaft für großspurige Auftritte auf Kosten des Steuerzahlers. Niemand weiß wirklich, was los ist. Und weil das ganze Unterfangen schön in eine Blase politischer Reden und technokratischen Geschwafels verpackt ist, interessiert es die wenigsten. Und trotzdem funktioniert die EU. Alle benehmen sich, alle beraten sich, alle versuchen, gute Europäer zu sein.

Die für das momentane Gebilde der EU zentrale Doppeldeutigkeit sorgt für den groben Zusammenhalt und lässt den einzelnen Nationen genug Handlungsspielraum. Fraglich ist, ob eine vergleichbare Balance durch klarer definierte Abkommen erreicht werden kann. Zugegeben, die Schwäche der Kommission gegenüber den Mitgliedsstaaten hat zur Folge, dass einige gute Ideen nie in Kraft treten werden. Andererseits sind nicht alle Ideen der Kommission gut. Und doch hat die Kommission den EU-Staaten als nützlicher Provokateur gedient, indem sie sie aus ihren protektionistischen Schneckenhäusern getrieben hat.

Ob nun absichtlich oder durch einen zufälligen Entwicklungsprozess - die EU entspricht dem Zweck Europas. Das soll nicht heißen, ihre Mängel sind ein Preis, den man zahlen muss. Aber ob die Vorschläge gegen die Defizite sinnvoll sind, ist fraglich. Warum beispielsweise die Macht der Kommission stärken, um der europäischen Wirtschaft aufzuhelfen, wenn den Politikern besser damit gedient wäre, ihre nationale Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik zu verbessern? Selbst Mao wusste, er kann pro Dekade nur einen großen Schritt vorwärts anordnen. Die EU hat noch nicht einmal den ersten Schritt, den Euro, verdaut, da nimmt sie sich schon die Osterweiterung vor. Diese kühnen Taten werden in dem jetzigen Institutionsgefüge stattfinden. Warum also das Rad neu erfinden?

Aus dem Wall Street Journal.Übersetz

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