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Der „neoliberale Unsinn“ hat nach Einschätzung Edzard Reuters auch die Raffgier forciert. Foto: Udo Anspach/dpa

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Edzard Reuter: "Nirgendwo wird mehr die Wahrheit gesagt"

Im Tagesspiegel-Interview spricht der ehemalige Daimler-Chef und Sozialdemokrat Edzard Reuter über die Gier von Managern, Stuttgart 21 und die Krise seiner Partei.

Herr Reuter, Sie kritisieren Gier – treibt die aber nicht die Leistungsträger an?

Natürlich, und es gibt viele Erscheinungsformen der Gier: Raffgier, Habgier, Sexualgier, Neugier – was Sie wollen. Es geht nur darum, wie sie eingedämmt wird. Gier muss Grenzen haben. Es ist wie bei einem reißenden Fluss, der aus dem Gebirge kommt und in befestigte Ufer eingebettet sein muss, damit er keine Überschwemmungen anrichtet. Ethische Grenzen und Gesetze sorgen gemeinsam dafür, dass eine Gesellschaft überhaupt existieren kann. Darum geht es auch bei den Vorstandsgehältern.

Wo liegen die Grenzen?
Ich kann Ihnen keinen Betrag auf Heller und Pfennig sagen. Das Einkommen eines Vorstandsvorsitzenden muss in Relation zum Gehalt eines normalen Mitarbeiters stehen. Was über das 40- oder 50-Fache hinausgeht, erscheint mir unanständig.

Wie erklären Sie sich, dass die unanständigen Gehälter einiger Vorstandsvorsitzender von den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat durchgewunken wurden?

Das liegt daran, wie sich die Mitbestimmung über die Jahrzehnte entwickelt hat. Die Arbeitnehmer haben sich häufig aus Fragen herausgehalten, die sie für die Sache der Arbeitgeber oder Aktionäre halten. Dazu gehörte die Festlegung der Vorstandsbezüge. Ich habe jedenfalls nie erlebt, dass ein Arbeitnehmervertreter bei diesem Thema den Finger gehoben hätte. Das Phänomen ist ein Teil unserer gewachsenen Konsensgesellschaft.

Und das halten Sie für falsch?

Eindeutig. Die Gewerkschaften sollten diese Art von Konsens aufkündigen. Ich plädiere nicht für eine absolut paritätische Mitbestimmung – dann würde es im Zweifel ein Patt geben, und das geht nicht. Aber die Arbeitnehmerbank ist für alle Unternehmensangelegenheiten mitverantwortlich, auch für die Bezüge des Managements.

Wieso wurden die Grenzen überschritten?

Wir haben uns allzu lange Zeit von Einflüssen aus den Vereinigten Staaten leiten lassen, dass es angeblich zum Wohle des Ganzen ausgeht, wenn wir alle Schleusen öffnen und alle Grenzen fallen lassen. Der große alte Adam Smith mit seiner Lehre von der unsichtbaren Hand musste dafür herhalten, dass ein entfesselter Markt angeblich das Wohl aller mehrt. Das hat Adam Smith so nie geschrieben, trotzdem haben selbst Nobelpreisträger wie Milton Friedman das behauptet. Margaret Thatcher, Ronald Reagan – viele sind diesem neoliberalen Unsinn gefolgt.

Selbst in ihrer Partei, der SPD.

Leider ja.

Trotzdem wollen Sie keine Gesetze, um der Gier Einhalt zu gebieten?

Gesetze müssen allgemeingültig sein. Ich halte es für sinnvoller, dass Gremien die Gier zügeln und sich jeden einzelnen Fall genau anschauen.

Ihr Buch schließt mit dem Appell, es müsse wieder das Primat der Politik gelten, und jeder Einzelne müsse sich einmischen. Parteien, Gewerkschaften, Kirchen verlieren aber massiv Mitglieder.

Das ist das eigentliche Problem. Deswegen polemisiere ich gegen das Phänomen der Heuchelei in der Gesellschaft. Nirgendwo wird mehr die Wahrheit gesagt. Die Eliten von Politik und Wirtschaft, die sogenannten bürgerlichen Kreise, wir alle heucheln. Deswegen wenden sich viele von der etablierten Gesellschaft ab. Das ist auch das Problem bei Stuttgart 21. Es wird immer teurer und immer teurer, und die Menschen lassen sich nicht mehr gefallen, dass ihnen zu Anfang etwas ganz anderes versprochen worden ist.

Waren Sie schon demonstrieren?
Nein, ich werde das auch nicht tun. Streithähne gibt es genug. Ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch ist, diesen Bahnhof oder die neue Strecke nach Ulm zu bauen. Die Befürworter sagen, alle Beschlüsse sind gefallen und durch Verträge besiegelt. Die Gegner behaupten, es seien inzwischen so viele neue Fakten bekannt geworden, dass Stuttgart 21 keinen Sinn mehr mache. Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung quer durch alle Schichten kommt zu diesem Schluss. Die Antwort darf doch nicht sein: Basta, wir schaffen jetzt Fakten. Ich bin für einen Baustopp von mindestens ein oder zwei Monaten, um Stuttgart 21 gründlich zu erörtern. Vielleicht steht am Ende, dass das Projekt in Ordnung ist. Ich war damals beim Potsdamer Platz mit einem Projekt ähnlicher Größenordnung befasst und weiß, dass so etwas irrsinnig komplex ist. Nehmen wir uns doch noch etwas Zeit. Das verstünde jedenfalls ich unter demokratischem Verantwortungsbewusstsein.

Sie schreiben in Ihrem Buch auch über die Integration von Migranten. Sie nennen es einen Skandal, wie wenig sie geglückt ist. Wie erleben Sie die Sarrazin-Diskussion?
Herr Sarrazin spricht einige Themen an, die diskutiert werden müssen, und andere, die ich für ausgemachten Blödsinn halte. Natürlich habe ich sein Buch gelesen. An vielen Stammtischen des Landes wird seit Jahren einseitig über Integration diskutiert. Die Sprüche von Herrn Sarrazin über Kopftuchmädchen oder Obstverkäufer passen da hin. An jeder Stammtischweisheit ist immer ein Körnchen Wahrheit – aber sie ist keine Antwort auf gesellschaftspolitische Fragen. Es ist zum Beispiel völlig klar, dass Kitas und Schulen besser ausgestattet werden müssen.

Herr Sarrazin macht die Migranten für die mangelhafte Integration verantwortlich, Sie die Gesellschaft?
So ungefähr, wobei ich von dem alten Spruch vom Fordern und Fördern viel halte. Und man muss zur Kenntnis nehmen, dass in vielen Bereichen – Unternehmen, Behörden, Krankenhäuser – Menschen mit Migrationshintergrund zu unser aller Wohlstand beitragen. Man muss bloß die Augen aufmachen. Es geht also. Integration ist möglich.

Ihre Partei tut sich zurzeit etwas schwer. Was wünschen Sie sich von der SPD?
Ich wünsche mir, dass die SPD jünger wird und die Themen an den Graswurzeln aufnimmt. Die SPD nimmt vieles nur von oben wahr, aus der Perspektive der obersten Regierungsverantwortung. Die Partei leidet bis heute darunter, wie Gerhard Schröder regiert hat. Die Basta-Mentalität hat der SPD nachhaltig geschadet. Wohlgemerkt: Ich rede nicht von den Inhalten. Es war eine große Leistung, den Umbau der Sozialsysteme anzugehen.

Näher an die Graswurzeln – wie geht das?
Das ist ein Prozess. Es wäre womöglich nicht gut für die SPD, wenn sie relativ kurzfristig im Bund wieder in Regierungsverantwortung käme. Besser wäre es, die Partei hätte ein paar Jahre Zeit, um sich neu aufzustellen. Sie braucht junge Leute, die sich engagieren, ohne gleich an die eigene Karriere zu denken. Das Phänomen kennen wir bisher vor allem aus der FDP.

Sie sagen, wir befinden uns in einer Krise der Moral. War die Finanzkrise vielleicht zu kurz, weil wir nun noch nicht die notwendigen Schlüsse aus ihr gezogen haben?
Die Finanzkrise ist nicht zu Ende. Man hat aus einigen Fehlern gelernt. Aber die massiven Eigeninteressen der Beteiligten werden wir nicht überwinden. Manche Nationen wollen keine starke Regulierung der Finanzmärkte. Die Finanzkrise ist deswegen nicht vorbei, weil sie bei den Menschen noch nicht wirklich angekommen ist. In der ganzen Welt haben die Regierungen riesige Kredite aufgenommen, um die Banken zu retten, aber ich kenne kein Land, das deswegen die Steuern drastisch erhöht hätte. Die Bevölkerung ist bisher weitgehend ungeschoren davongekommen, aber das wird so nicht bleiben. Für mich ist die Frage nicht, ob die Krise zu schnell vorbei war, sondern ob sie ausreichend unter die Haut geht, um uns zu Konsequenzen zu zwingen.

Das Gespräch führte Moritz Döbler.

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