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Wirtschaft: Eine Minute kann 25 000 Euro kosten

Juristen zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des Elterngeldes: Gutverdiener werden bevorzugt

Berlin - Michael Tell macht Ernst. Der Betreiber des Internet-Forums Elterngeld.net ist entschlossen, eine Klage gegen das neue Elterngeld zu finanzieren – notfalls aus eigener Tasche. Der streitbare Vater hält die neue Familienleistung für verfassungswidrig. Wehren will sich Tell vor allem gegen den im Gesetz enthaltenen Stichtag, den 1. Januar 2007.

Ein Datum mit finanziellen Konsequenzen: Wer sein Kind am 31. Dezember um 23.59 Uhr zur Welt bringt, erhält das alte Erziehungsgeld von 300 Euro im Monat. Kommt der Nachwuchs dagegen eine Minute später zur Welt, zahlt der Staat Elterngeld – für Gutverdiener macht das einen Unterschied von bis zu 25 000 Euro aus. Arbeitslose oder Studenten ohne eigenes Einkommen fahren dagegen mit dem bisherigen Erziehungsgeld besser.

Dass eine Minute über Tausende von Euro entscheiden kann, finden Tell und viele andere ungerecht. Sie wollen daher gegen das neue Elterngeld prozessieren. Ihre Erfolgsaussichten sind gut, meinen Verfassungsrechtsexperten. Allerdings nur dann, wenn sie das Gesetz aus anderen Gründen angreifen. „Das Elterngeld ist in vielen Punkten klar verfassungswidrig“, sagte der Darmstädter Sozialrichter Jürgen Borchert dem Tagesspiegel, „nur in einem nicht – der Stichtagsregelung.“ Dass eine solche Regelung grundsätzlich mit der Verfassung vereinbar ist, habe das Bundesverfassungsgericht bereits in früheren Entscheidungen festgelegt.

Nach Meinung namhafter Juristen verstößt das Gesetz jedoch aus anderen Gründen gegen das Grundgesetz. „Das Gesetz begünstigt Doppelverdiener, die ihr erstes Kind bekommen“, sagt Christian Seiler, der an der Universität Erfurt den Lehrstuhl für Verfassungs-, Steuer- und Sozialrecht leitet. Während Gutverdiener bis zu 1800 Euro im Monat vom Staat bekommen können, erhalten Arbeitslose oder Studenten oft nur die Mindestförderung von 300 Euro. Seiler hält das für einen Verstoß gegen den verfassungsrechtlich geschützten Gleichbehandlungsgrundsatz: „Warum ist dem Staat die Erziehung, die der Chefarzt seinem Kind angedeihen lässt, mehr wert als die Erziehung, die eine Medizinstudentin leistet?“

Benachteiligt würden auch Familien, in denen nur ein Elternteil arbeiten geht und der andere wegen der Erziehung älterer Kinder zu Hause bleibt. Denn der Geschwisterbonus, den der Staat zahlt, wenn im Haushalt bereits kleine Kinder leben, liegt für das neue Kind nur bei zehn Prozent des Elterngeldes (mindestens 75 Euro). „Die staatliche Familienförderung, die mit Steuerngeldern finanziert wird, schließt gerade die Familien aus, die die Unterstützung am dringendsten brauchen“, kritisiert Seiler.

„Das neue Gesetz führt zu einer Umverteilung von unten nach oben“, meint auch Familienrechtsexperte Borchert. „Wer wenig verdient, verliert jetzt auch noch ein Jahr an staatlicher Unterstützung.“ Denn während das Erziehungsgeld zwei Jahre lang gezahlt wurde, gibt es das Elterngeld nur für ein Jahr. „Mit dem Elterngeld unterstützt die Regierung ihr familienpolitisches Leitbild der Doppelverdienerehe“, kritisiert der Jurist. Das sei aber ein Verstoß gegen Artikel 6 Grundgesetz, der Ehe und Familie schützt. „Der Staat darf kein Idealbild vorgeben.“ Zudem habe das Gesetz auch handwerkliche Mängel. Dem Bund fehle schlicht die Gesetzgebungskompetenz für das Elterngeld, sagen Seiler und Borchert. „Ich bin sicher, dass das Gesetz schon aus diesem Grund kippt, wenn Menschen klagen“, meint Borchert.

Mütter und Väter, deren Baby in den nächsten Tagen auf die Welt kommen soll, versuchen derweil, das Problem praktisch zu lösen. Gutverdienerinnen fragen jetzt verstärkt bei Kliniken und Hebammen nach, wie sie den Geburtstermin hinausschieben können. Unter der Hand erkundigen sich auch einige, ob der Arzt oder die Hebamme die dokumentierte Geburtsstunde nicht notfalls – je nach Bedarf – nach vorne oder nach hinten verlegen könnte. Eine Frage, auf die Ärzte und Geburtshelferinnen genauso ablehnend reagieren wie auf den Einsatz wehenhemmender Mittel. „Früher konnte es den Müttern nicht schnell genug gehen, heute legen sie sich freiwillig aufs Sofa“, schmunzelt die Berliner Hebamme Katharina Kerlen-Petri.

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