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Wirtschaft: Eine Roßkur für die deutschen Kurorte

Seit der Gesundheitsreform bleiben in den Heilbädern die Gäste weg / Übernachtungen um 50 Prozent gesunkenVON GERD W.SEIDEMANN"Gesund und fit", "Ankommen, Aufatmen, Durchatmen" - der Phantasie sind in deutschen Kur- und Heilbädern beim Erfinden neuer Werbeslogans keine Grenzen gesetzt.

Seit der Gesundheitsreform bleiben in den Heilbädern die Gäste weg / Übernachtungen um 50 Prozent gesunkenVON GERD W.SEIDEMANN"Gesund und fit", "Ankommen, Aufatmen, Durchatmen" - der Phantasie sind in deutschen Kur- und Heilbädern beim Erfinden neuer Werbeslogans keine Grenzen gesetzt.Doch bevor die von der Gesundheitsreform gebeutelten Orte selbst durch- oder gar aufatmen können, wird noch einige Zeit vergehen.Zunächst einmal sehen sich die meisten Gemeinden und Kurbetriebe bei leeren Betten und verwaisten Gesundheitseinrichtungen mit klaffenden Finanzlöchern und wegbrechenden Arbeitsplätzen konfrontiert."Daß Korrekturen am System notwendig waren, darüber besteht kein Zweifel", räumt Hessens Wirtschaftsminister Lothar Klemm (SPD) ein.Seine Schelte in Richtung Bonn zielt aber vor allem darauf, daß den Betroffenen keine Zeit gegeben wurde, sich auf die neue Gesetzeslage einzustellen.Kurkliniken und die umliegende Infrastruktur im Handumdrehen in normale Tourismusbetriebe zu verwandeln, sei nicht machbar, so Klemm.Er hätte eine Übergangszeit von zwei bis drei Jahren für angemessen gehalten.Nach Auffassung des Deutschen Bäderverbandes wäre das von Minister Horst Seehofer (CSU) avisierte Ziel bei den Einsparungen auch ohne die restriktive Gesetzgebung erreichbar gewesen.Nunmehr sei eine "Übersteuerung" eingetreten, die die bewußt im strukturschwachen ländlichen Raum geschaffenen Einrichtungen "reihenweise wegbrechen" lasse.Seit Ende 1996 ist die Zahl der Übernachtungen in fast allen deutschen Heilbädern und Kurorten um bis zu 50 Prozent zurückgegangen."Nahezu 40 000 Arbeitslose hat die Gesundheitsreform bis heute produziert", rechnet Rudolf Forcher, Vorsitzender des Wirtschaftsverbandes Deutscher Heilbäder und Kurorte.Nicht nur Kliniken und der ambulante Kurbereich sind betroffen, vor allem die indirekt am Kurgeschäft Beteiligten geraten zunehmend in Not: Zulieferer und Dienstleister in der Gastronomie oder bei Fuhrunternehmen.Selbst das Handwerk - man denke allein an die Friseure in den Kurorten - hat bereits unter dem Ausbleiben der Gäste zu leiden.Nach Angaben des Bäderverbandes wurde in Heilbädern und Kurorten bislang eine Kaufkraft von 18 Mrd.DM jährlich erwirtschaftet.Damit sei das Kurwesen stärker am Bruttosozialprodukt beteiligt als Chemie, Stahl oder Landwirtschaft.Allein in Hessen, dem Bundesland mit der größten Dichte an Kurorten (33), sind bei 16 000 Beschäftigten im stationären Kurbetrieb und 4000 im ambulanten Bereich bereits 6000 Arbeitsplätze den Sparzwängen zum Opfer gefallen.Verlorene Jobs außerhalb des Gesundheitsbereichs werden in einer ähnlichen Größenordnung verzeichnet.Kein Wunder, daß die Rufe nach einem Strukturprogramm ähnlich dem, das zur Werftenkrise aufgelegt wurde, lauter werden."Kein Bundesland, in dem Kurorte in nennenswerter Zahl existieren, kann die Krise allein bewältigen", setzt Klemm auf die Solidarität etwa mit Bayern - dort reklamiert man den Verlust von 15 000 Arbeitsplätzen - und Baden-Württemberg.Dabei zeigt Klemm Verständnis dafür, daß die anderen Länder ihre Kuren jetzt nicht mehr wie früher nach Hessen "exportieren", daß die Landesversicherungsanstalten (LVA) ihre Klientel nur noch in den jeweiligen Einrichtungen des eigenen Bundeslandes kuren lassen.Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) streut zwar die von ihr bewilligten Rehabilitationskuren breiter, doch: Für 1997 waren bereits 9000 Vertragsbetten gekündigt und eigene Kapazitäten erheblich zurückgeschraubt.Mittelfristig wird der Abbau von 6000 weiteren Betten "nicht ausgeschlossen".Noch vor vier Jahren waren die deutschen Kurorte von den politisch Verantwortlichen in Bonn als "unmodern" gescholten worden.Die Kritik fiel auf fruchtbaren Boden, und so mancher Bürgermeister / Kurdirektor sah die Gelegenheit gekommen, sich mit politischer Rückendeckung ein Denkmal in Form eines schicken Kurmittelhauses oder eines überdimensionierten "Badeparadieses" bauen zu lassen.Beispiel Bad Soden.Dort wurde vor drei Jahren für 15 Mill.DM eine neue Klinik gebaut.Die Stadt übernahm eine Bürgschaft für den notwendigen Kredit.Nun stehen die Betten leer, der Schuldendienst kann nicht mehr erbracht werden, die Stadt steht als Bürge bei der Bank gerade - und ist de facto pleite.Was alt und unmodern, aber bezahlt ist, bleibt dagegen vorerst von der Krise verschont.Ohne Schuldenlast reichen Belegzahlen von 50 bis 60 Prozent aus, um über die Runden zukommen.Betroffen sind vor allem die alten Bundesländer.Die relativ wenigen Kurorte in den neuen Ländern kommen noch einigermaßen über die Runden.Obwohl Bäderverbands-Präsident Christoph Kirschner den "unkontrollierten Klinikbau" nach der Wende beklagt: "Aus 7000 geplanten Rehabilitations-Betten sind 31 000 geworden." Doch die zahlreichen Kurkliniken, die insbesondere in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern aus dem Boden gestampft, freitags feierlich eröffnet und montags bereits wieder geschlossen wurden, weil Gäste zu keinem Zeitpunkt in Sicht waren, können bei einer Betrachtung der allgemeinen Kur-Malaise außer Acht gelassen werden.An ein Strukturprogramm oder andere Hilfen aus Bonn vermag trotz aller Forderungen so recht niemand zu glauben."Wir sind nun mal ins Haifischbecken gestoßen worden, also hilft nur noch eines, schwimmen", sagt Minister Klemm.Die Überlebensversuche fallen jedoch sehr unterschiedlich aus.Während Kurorte mit Weitblick bereits seit einigen Jahren ihr Angebot auf den privat zahlenden Gast ausgerichtet haben und mit "All-inclusive-Paketen" Erholungssuchende locken, muß sich die Mehrzahl zunächst noch daran gewöhnen, nicht mehr an die Versorgungsmaschinerie des Sozialversicherungssystems angeschlossen zu sein.Den "zauberhaften Kurpark" werden die Werber beim Buhlen um den aus eigener Tasche zahlenden Kunden dann vergeblich groß herausstellen.Die "Kur" braucht ein neues Image.Gerd Hesselmann, Präsident des Deutschen Reisebüro-Verbandes, hat so seine Bedenken, was die Buchung einer Kur im Reisebüro angeht: "Alte Menschen am Stock, die ihre Runden im Kurpark drehen, hier ein Schlückchen Wasser trinken, dort ein Stückchen Kuchen essen - nicht sehr attraktiv." Sein Vorschlag: "Der Kurort muß zu einem großen Club à la Robinson werden.All-inclusive bringt Budgetsicherheit, Bequemlichkeit, steigert bei entsprechenden Sport- und Wellnessangeboten die Attraktivität."Der Kurort als Clubanlage - Zukunftsmusik.Beispiele aus der Gegenwart sind da faßbarer.Im ostwestfälischen Bad Driburg etwa stützt sich der Kurbetrieb seit zwei Jahren auf ein Drei-Säulen-Modell mit Gesundheit, Fitneß / Sport und Verwöhnen."Der Wind bläst uns mächtig entgegen.Man kann ihn nicht ändern, aber die Segel richtig setzen", betont Marcus Graf von Oeynhausen-Sierstorpff, geschäftsführender Gesellschafter der Bad Driburger Kurverwaltung GmbH + Co.Um die Kurkrise zu bewältigen, müsse der Selbstzahler zum wichtigsten Gast werden.Ihn gelte es davon zu überzeugen, daß er sich Gesundheit etwas kosten lassen muß und daß Kur nicht mit Krankheit in Verbindung steht.Kurdirektor Christian Kirchner aus Bad Saarow hat neben einem 100-Mill.-Programm zur Kurortentwicklung einen Traum: "Die Kur muß wieder zum gesellschaftlichen Ereignis werden."

GERD W.SEIDEMANN

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