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Einkommen: Der große Unterschied

Hohe und niedrige Einkommen driften weiter auseinander. Experten warnen vor Ausgrenzung.

Deutschland verändert sich. Langsam zwar, aber merklich. „Seit dem Jahr 2000 hat die Ungleichheit deutlich zugenommen“, sagt Gert G. Wagner, Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Überraschend sei das nicht. „Es ging in den vergangenen Jahren ja nicht wirklich bergauf, und die Arbeitslosigkeit stieg an.“ Wagner leitet eine Längsschnittstudie, die seit 1984 die verfügbaren Haushaltseinkommen der Bundesbürger ermittelt. Die neuen Daten sind eindeutig: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer.

So groß wie heute war der Abstand noch nie. Verfügten die unteren 30 Prozent der Haushalte im Jahr 2000 noch über 15,4 Prozent des Gesamteinkommens, waren es fünf Jahre später nur noch 14,3 Prozent. Umgekehrt stieg der Anteil des oberen Drittels von 48,8 auf 49,7 Prozent. „Am oberen Rand wurde vor allem entlastet“, erklärt Wagner die Entwicklung. In der Tat sank der Spitzensteuersatz in den vergangenen acht Jahren von 53 auf 42 Prozent. Allerdings wurden im Gegenzug auch Steuerschlupflöcher geschlossen, in den oberen Einkommensgruppen wurden Weihnachts- und Urlaubsgeld oft gekürzt. Das schmälert den Effekt.

Deutlicher wird die Spreizung der Einkommen am unteren Ende. Der Anteil der Haushalte, die nach wissenschaftlicher Definition im Armutsrisiko leben – also über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen –, ist zwischen 1999 und 2005 deutlich gestiegen: von 12,6 auf 17,3 Prozent. In den neuen Bundesländern sind es sogar 21,3 Prozent. „In Ostdeutschland schlägt sich die Massenarbeitslosigkeit deutlich nieder“, erklärt Wagner. Fehlende Arbeitsplätze sind für ihn einer der Hauptgründe für den Abstieg der unteren Einkommensgruppen. Wenn die Arbeitslosenzahlen zurückgingen, werde auch die Ungleichheit von selbst wieder abnehmen, vermutet der Wirtschaftsprofessor. Doch dazu muss es erst einmal kommen. Langfristig hält Wagner eine andere Entwicklung für noch gravierender: „Wenn wir 20 Prozent der Jugendlichen ohne einen Schulabschluss ins Leben schicken, haben wir bald ein ganz großes Problem“, sagt der Wirtschaftsprofessor. Vor allem für Migrantenkinder halte das deutsche Schulsystem keine vernünftige Ausbildung bereit. „Das wird in 20 Jahren richtig durchschlagen.“

Unklar ist auch die Wirkung der Arbeitsmarktreform Hartz IV auf die Einkommensverteilung. Die Daten des DIW erfassen sie noch nicht. Sie dürfte aber vor allem darin bestehen, dass ein Teil der Mittelschicht nach unten abrutscht. Armutsforscher Wolfgang Strengmann-Kuhn von der Universität Frankfurt am Main sieht deshalb ein wachsendes Armutsrisiko: „Der Arbeitslosengeld-II-Betrag liegt unter der Armutsgrenze“, sagt der Wissenschaftler. Als arm gilt in Deutschland laut Bundesregierung, wer als Ein-Personen-Haushalt weniger als 938 Euro im Monat zur Verfügung hat. Wegen fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten treffe die Armut vor allem Familien, sagt Strengmann-Kuhn. „Ein Einkommen reicht meist nicht aus – und wenn beide Eltern arbeiten, müssen die Kinder sich selbst beschäftigen.“

Im internationalen Vergleich sind Armutsquoten und Einkommensunterschiede in Deutschland freilich immer noch relativ gering. Angesichts der Ergebnisse der DIW-Studie solle man „die Kirche im Dorf lassen“, sagt Stephan Klasen, Entwicklungsökonom an der Uni Göttingen. Die Ungleichheit der Einkommen sei zwar gestiegen, sie sei aber immer noch niedriger als in den meisten anderen Ländern. Auch der Frankfurter Gesellschaftswissenschaftler Wolfgang Glatzer gibt zu bedenken: „Zustände wie in England, Frankreich oder den USA haben wir noch lange nicht erreicht.“

Dennoch hat die Entwicklung Folgen. „Das Gefühl, benachteiligt zu sein, hat in Deutschland vor allem unter Arbeitslosen stark zugenommen“, sagt Strengmann-Kuhn. Auf Dauer könne dies zur gesellschaftlichen Isolation führen. Im schlimmsten Fall drohten eine politische Radikalisierung der Unterschicht und soziale Unruhen, wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffne. Auch für die Wirtschaft könnten zu große Unterschiede zwischen Bedürftigen und Wohlhabenden schädlich sein. „Es sinkt nicht nur die Kaufkraft, sondern auch die Produktivität einer Gesellschaft, in der viele Menschen frustriert sind und am Existenzminimum leben“, sagt Volkswirt Strengmann-Kuhn.

S. Kaiser, D. Lüdemann

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