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Wirtschaft: Elf Alleskönner

Von Martín E. Hiller Berlin.

Von Martín E. Hiller

Berlin. Manche Dinge ändern sich unauffällig leise im Laufe der Jahre, manche plötzlich im Zuge einer gewaltigen schmerzhaften Erschütterung des Systems - und manche überhaupt nicht. Von 1917 an gehörte der 1912 gegründete Russische Fußballverband ein Dreivierteljahrhundert lang zur Sowjetunion, dann rund ein Jahr zum Kunstgebilde der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), und vor zehn Jahren schließlich wurde der eigenständige russische Verband wiederbelebt. Doch ob unter dem letzten Zar aller Russen, unter der Diktatur des Kommunismus oder in Zeiten demokratischer Wahlen - der Fußball, der in Russland gespielt wurde, blieb immer der gleiche.

Zwar fordert Wladimir Putin von der aktuellen russischen Mannschaft, die heute in Kobe gegen Tunesien (8.30 Uhr, live auf Premiere) das Turnier beginnt, „Selbstaufopferung und attraktiven Fußball.“ Das Achtelfinale solle das Team ereichen, sagte der russische Präsident. Um den Spielern auch einen materiellen Anreiz zu schaffen, lobte der Verband für den jeweils besten russischen Spieler einer WM-Partie einen Porsche aus. Trainer Oleg Romantsew kündigte bereits seinen Rücktritt an, falls sein Team die Vorrunde mit Tunesien, Japan und Belgien nicht überstehen sollte. „Es ist wie überall, wenn die Mannschaft sich nicht für die nächste Runde qualifizieren sollte, hat der Trainerstab Konsequenzen zu ziehen“, sagte er. Für attraktiven Fußball steht seine Mannschaft bislang jedoch nicht.

Traditionell nehmen die Russen solche Spieler in die Nationalelf auf, die die Fähigkeit zum Zusammenspiel mitbringen. Das Lieblingswort der russischen, bzw. sowjetischen Nationaltrainer von Gawril Kachalin bis Walerij Lobanowski lautet Kollektiv. „Die Zukunft dieses Spiels ist gekommen, wenn elf Alleskönner auf dem Platz stehen", sagte der kürzlich verstorbene Lobanowski, der die Sowjetauswahl mit Unterbrechungen von 1975 bis 1990 betreute. Der Ukrainer brachte es mit dieser Einstellung zum Vize-Europameister und zum Olympiadritten. Der große Wurf blieb dem Oberst aber versagt: Auch unter Lobanowski erreichte die sbornaja komanda, die "Mannschaft aller Sterne" nie ein WM-Finale. Dennoch rückten weder Lobanowski noch seine Nachfolger von dem Gedanken des Kollektivs ab.

Das ansehnliche, oft direkte Kurzpassspiel, das russische Mannschaften seit jeher entwickelten, übernahmen viele Länder des ehemaligen Ostblocks. Selbst in niederklassigen Ostberliner Fußballmannschaften ist dieser Spielstil bis heute zu beobachten. Die strikte Konzentration aufs Mannschaftsspiel hatte zur Folge, dass das größte Land der Erde praktisch nie einen Superstar des Fußballs hervorbrachte, einen Spieler, der besser war als alle anderen seiner Zeit. Eine Ausnahme ist vielleicht noch der legendäre Lew Jaschin, den Franz Beckenbauer einst anlässlich eines Freundschaftsbesuchs in Moskau den Größten seines Faches nannte. Es ist bezeichnend, dass der wohl einzige Weltstar Russlands auf einer Position spielte, wo er sich nur bedingt ins Kollektiv einreihen musste - Jaschin war Torwart.

Aus einer insgesamt nlosen russischen Elf ragen allenfalls die Spanienlegionäre Waleri Karpin, Alexander Mostowoj sowie der Routinier Viktor Onopko heraus. Letzterer scheint nicht nur wegen seiner hohen Stirn mehr als 97 Länderspiele hinter sich zu haben, so vertraut ist sein Gesicht. Auch bei seiner neunten WM-Teilnahme verfügt Russland also nicht über einen Ausnahmespieler, der die Spiele alleine entscheiden könnte. Darüber hinaus behält das Land der 150 Millionen Menschen eine weitere Tradition bei: Noch immer stellen alle vier großen Moskauer Vereine Nationalspieler - der Gewerkschaftsklub und Rekordmeister Spartak, die Eisenbahner von Lokomotiv, der Armeeverein ZSKA und sogar der kleine Bruder Torpedo schicken insgesamt zehn Spieler zur Weltmeisterschaft. Zusammen mit den Legionären bilden diese Spieler eine Mannschaft, die sich nicht vorführen läßt, aber auch nicht brilliert. Eine Mannschaft, die ihre Qualifikationsgruppe ungefährdet gewann, die aber auch gegen Demontagekandidaten wie die Faröer oder Luxemburg nie mehr als drei Tore zustande brachte. Man fühlt sich an den amerikanischen Tennisspieler Aaron Krickstein erinnert - nie eine unerwartete Erstrundenniederlage, nie ein Grand-Slam-Sieg. Auch 2002 dürfte das russische Kollektiv kaum für eine Überraschung gut sein, weder im positiven noch im negativen Sinne. Aber das hat auch etwas Beruhigendes, in Zeiten, da sich so viele Dinge ändern.

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