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Wirtschaft: Elisabeth Pietschmann

Geb. 1902

Ihre fabelhaften Arbeitszeugnisse hob sie alle auf – der guten Ordnung halber. Ein Baby, klein und viel zu zart, die Nottaufe noch am Tag der Geburt. „Die macht’s nicht lang“, waren die Worte des ansonsten eher schweigsamen Vaters. Oft war sie krank als Kind. Auf dem Familienfoto steht sie mit blonden Löckchen als Kleinste von fünf Geschwistern auf dem Fußbänkchen. Der Herr des Hauses im Gehrock, die Kinder mit weißem Häkelkragen: Gut geht es uns, sollte das Foto sagen, eine Greifswalder Bürgerfamilie im Kaiserreich. Das war die Fassade. Doch das Drechslerhandwerk des Vaters, das er mit der Inbrunst eines Künstlers, aber ohne Kaufmannssinn betrieb, warf längst nicht genug ab. Der Mutter blieb die Sorge, die siebenköpfige Familie satt zu bekommen.

So konnte Elisabeth später viel vom Hunger erzählen. Als Rentnerin, als sie längst „Tante Eli“ hieß und für die Kinder ihrer Nichte sorgte. Sie kochte ihnen Lungenhaschee und konnte es nicht fassen, wenn die Kleinen ihren Teller nicht leer aßen. Den Kohlrübenwinter hat sie erlebt, 1916/1917, als man sich über Kartoffelschalen freute, die Inflation in den zwanziger Jahren – da wohnte sie als alleinstehendes Fräulein zur Untermiete in Berlin, ging mit knurrendem Magen ins Bett und erhielt am nächsten Morgen eine Kündigung: „…infolge der Verkleinerung unseres Betriebes“, „…wegen der Geschäftskrise“, „…aufgrund der schwierigen Lage leider keine andere Möglichkeit“. Außerdem stand da immer wieder: „pünktlich, gründlich, tüchtig, zuverlässig“. Den Stapel der durchweg fabelhaften Arbeitszeugnisse, aus dem Stahlwerk, vom Patentanwalt, dem Lokomotivzulieferer, der Schweizer Molkerei- und Meiereianstalt, und wo sie überall noch als Bürofräulein diente, hat sie aufgehoben, wohl der guten Ordnung halber.

Ihr großer Bruder, Kunstmaler und Meisterschüler von Feininger und Klee, hatte sie aus dem Elternhaus geholt, fort vom strengen, lieblosen Regiment des Vaters, da war sie Anfang 20. Zuvor hatte sich ein kleines Drama angebahnt: Sie war verliebt, vielleicht das einzige Mal in ihrem Leben, in einen jüdischen Jurastudenten, der im Weltkrieg sein Bein verloren hatte. Eine Verbindung, die beide Elternhäuser nicht duldeten, die ihr herrischer Vater mit deutlichen, auch antisemitischen Worten untersagte. Sie war eine gehorsame Tochter. Manchmal fragte sie sich später, was aus ihrem Jugendfreund geworden sein mag. „Er hat es bestimmt noch rechtzeitig geschafft“, sagte sie dann mit fester Stimme, „er konnte sicher noch ins Ausland fliehen.“

Ihr Bruder hatte selbst nichts abzugeben, in seinen ersten Künstlerjahren überlebte er auch nur, weil er Kohlen schippte. Durchschlagen musste sie sich schon selbst, in immer neuen Stellen. Das Leben formte so aus dem zarten Nesthäkchen eine herbe Frau, sparsam, bescheiden, praktisch, und ein Jahr fügte sich ans andere. Als sie endlich ein bisschen aufatmen konnte, sich mit über 30 Jahren ihre erste eigene, kleine Kochstube in Friedenau leisten konnte, da begann der zweite große Krieg und zog noch die letzten ledigen Männer an die Front.

Was blieb da anderes als Kameradsein? Sie war nicht eitel, es gibt kein einziges Foto von ihr als junge Frau. Der Sport hat ihr immer geholfen, sie abgehärtet, ihr Freunde gebracht. Von Jugend an war sie im Turnverein, später wanderte sie in der Gruppe jedes Wochenende zu den Brandenburger Seen. Noch mit über 90 stand sie im Sommer morgens um sieben vorm Olympiabad, um die Erste zu sein, die ins Wasser sprang.

Sie radelte in zwei Tagen von Berlin nach Greifswald, um der Mutter, an der sie hing, zum Geburtstag zu gratulieren. Doch dann starben die Eltern, zwei ihrer Schwestern auch, und der geliebte Bruder verunglückte mit 38 Jahren auf dem Motorrad. Nur eine große Schwester in der DDR blieb ihr noch nach dem Krieg. Der schickte sie riesige Pakete, schmuggelte „Readers Digest“ über die Grenze, bezahlte der Familie in Mecklenburg zwei Mal einen nagelneuen Škoda. Sie selbst fuhr ihr Leben lang mit dem Fahrrad.

Bis zur Sachbearbeiterin der Landesversicherungsanstalt Berlin brachte sie es. 1967 ging sie in Pension, nach 50 Arbeitsjahren, noch 38 Lebensjahre vor sich. Eine selbstständige Frau, die beinahe alles konnte: Heimwerkerei, Buchhaltung, Nähen, Schreibmaschine. Als Rentnerin spielte sie Bridge, reiste ein wenig und beklagte sich nicht, als sie mit über 90 Jahren in ihrer Wohnung hin und wieder umfiel und die Nichte sagte, ein Heim wäre vielleicht doch besser. Vom ersten Tag im Seniorenstift an nutzte sie das komplette Angebot: Sitzgymnastik, Singen, Gedächtnistraining.

„Mir genügt es, ein Tropfen im Ozean zu sein“, sagte Tante Eli manchmal. Dabei kennt auch das genügsamste Leben große Momente. „Weißt du noch: der Russe“, sagte die Nichte zu ihr, wenn sie sie fütterte. Dann nickte die Tante. Die Geschichte hatte sie früher oft erzählt. Kurz nach Kriegsende war sie zu Fuß unterwegs von Friedenau nach Wannsee. Auf der leeren Potsdamer Straße hielt plötzlich ein russischer Soldat neben ihr, auf einem Panjewagen mit Pferdchen davor. Er befahl ihr wortlos aufzusteigen. Herzklopfend saß sie neben ihm, eine Ewigkeit lang. Als sie Wannsee erreichten, gab sie vorsichtig zu verstehen, am Ziel zu sein. Und was tat er? Er hielt an, griff nach ihrer Hand und verneigte sich. „Es war“, hat sie an dieser Stelle immer strahlend gesagt, „der erste und einzige Handkuss meines Lebens.“

Kirsten Wenzel

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