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Wirtschaft: Else Kinieczyk

Geb. 1920

„Ich“ zu sagen, hatte sie nicht gelernt. „Das möchten wir nicht“, sagte sie. Ihre Großeltern waren polnisch, aber sie selbst war schon eine waschechte Berlinerin, eine aus Berlin-Mitte. Durch die Hackeschen Höfe, wo sich heute die Touristen drängen, verlief ihr Schulweg. Die kleine Familie hatte kein Geld, der Vater war Schuster, schon den Groschen für Elses Schulausflüge konnte man kaum entbehren. Es war ein Fest, wenn Else von der reichen Verwandtschaft aus Kleinmachnow, wo Onkel Max Käse en gros handelte, eine Kiste Harzer mitbrachte. Das wirst du mal erben, hieß es, aber damit wurde es nichts, eine Fliegerbombe hat alles zerstört.

Als junges Mädchen ging sie zum Landpflichtjahr nach Ostpreußen und blieb zehn Jahre, bis 1944. Auf den großen Gütern und Gestüten hatte sie ihre schönste Zeit. Bei ihrer Rückkehr fand sie niemanden mehr vor, das Elternhaus war zerbombt. Sie folgte einer Freundin nach Königsberg, wo sie noch das Bernsteinzimmer sah, als der Geschützdonner schon zu hören war. Mit einem der letzten Schiffe konnte sie flüchten. Im Sudetenland war die Verwandtschaft allerdings nicht begeistert über einen Esser mehr. Und als es schon bald hieß: „Reichsdeutsche raus“, ging es wieder nach Berlin, diesmal zu Fuß, nachts versteckte sie sich im Wald.

Erst war sie Trümmerfrau, dann schuftete sie in einer Weißenseer Fleischfabrik für die Russen. Die Frauen versuchten, rauszuschmuggeln, was sie konnten, und klemmten sich Speckschwarten unters Korsett. Später arbeitete sie in Prenzlauer Berg in einem Heim für Kriegswaisen. Wegen ihrer exakten Schrift wurde sie Ella Kay empfohlen, der Bezirksbürgermeisterin und späteren Berliner Jugendsenatorin, die sie freundschaftlich in ihren Kreis aufnahm. 1948 trat sie in die SPD ein. Das Parteibuch mit den sorgfältig eingeklebten Sondermarken erzählt Geschichte: „Wir bleiben eine Stadt“ (1 DM), „Für verfolgte Demokraten“ (5 DM).

Sie fand ihre neue Lebensaufgabe als Erzieherin in einem Heim für Kriegswaisen, das im Schloss Glienicke eingerichtet wurde. Else hieß jetzt „Tante Elfie“. Sie war eine, die „ich“ zu sagen nicht gelernt hatten. „Das möchten wir nicht“, hieß es immer. Im Stil eines Poesiealbums führte sie Buch über die Schicksale ihrer Kinder: „Joachim, Mutter und Schwester von den Russen erschossen. Schwester vermißt. Geistig schwerfällig, aber fleißig.“ „Klaus, Hochstapler und Casanova von Geburt an. Mutter wurde nicht mehr mit ihm fertig. Begabter Zeichner.“ „Werner, hat mit dem Vater Einbrüche unternommen. Hat sich in der Gemeinschaft wohlgefühlt. Als der Vater aus dem Gefängnis kam, rückte er aus.“ Das Büchlein bekam Ernst Reuter zum Geburtstag geschenkt, der sich artig mit einer Karte für die „freundlichen Glückwünsche zu meinem Geburtstage“ bedankte.

Was heute den Kern einer Lebenserzählung ausmacht, die Suche nach der großen Liebe, bleibt eine Randbemerkung. Es gab da jemanden, aber der war verheiratet. Trotzdem bekam sie ein Kind von ihm, Alimente wollte sie nicht. Ihre Tochter wuchs mit den anderen Heimkindern auf – und fand das ganz normal. Die beiden führten kaum ein eigenes Familienleben. Wenn es zu Weihnachten mal eine eigene Gans gab und nicht die aus der Heimküche, dann war das etwas ganz Besonderes.

Nach ihrer Pensionierung hörte Else Kinieczyk, die eine höhere Schule nie besuchen konnte, nicht auf zu lernen. Sie brachte sich Ölmalerei bei und malte im naiven Stil ostpreußische Kornfelder und Seen. Oft tauchte irgendwo auf dem Bild ihre kleine Tochter auf. Sie war überzeugte Laubenpieperin und schob, als es eine Serie von Einbrüchen gab, zusammen mit Ella Kay in der Kolonie Nachtwache. Die Frauen hatten gelernt, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Das mag auch eine Rolle gespielt haben, als sich Else noch im hohen Alter für eine Krebsoperation entschied. Alle hatten ihr abgeraten, denn die Chancen, das zu überstehen, waren gering. Was für ein Triumph, es nach der Operation noch einmal nach Hause zu schaffen! Als sie schließlich starb, schien es, als hätte sie selbst entschieden, wann Schluss sein sollte.

Jochen Schmidt

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