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© Picture Alliance/dpa

Emigration: Hunderttausende Polen arbeiten im Ausland

Bis zu zwei Millionen Polen verdienen ihr Geld im Ausland und überweisen jährlich Milliardenbeträge in die Heimat. Dort geht es stetig bergauf, doch der Aufholprozess dauert. Menschen brauchen Geduld.

Wirklich einladend sieht der Ort nicht aus. Der Regen hat den Boden aufgeweicht, am verrosteten Zaun wuchert Unkraut und in einer Ecke des Geländes stapeln sich Bretter und Bauschutt. Dazwischen steht Katarzyna Musial und lächelt zufrieden. „Eigentlich müsste ich mich ja etwas schämen“, sagt sie und sieht auf ihre verschlissene Kittelschürze und die grünen Gummistiefel. „Aber das ist die richtige Kleidung für eine Baustelle.“ Seit dem Frühjahr fährt sie jeden Tag von ihrer Wohnung in einer Warschauer Hochhaussiedlung an den Stadtrand, um am eigenen Heim zu bauen. „Ich kann ja nur helfen“, sagt die 45-Jährige und zeigt auf einen etwas mürrisch wirkenden Mann. „Das meiste hier macht mein Bruder.“ Der Hausbau ist ein Familienprojekt.

Auch der Ehemann und ein Sohn von Katarzyna Musial haben ihren Teil zu erfüllen: sie verdienen das Geld. Weil die Familie sich ihren Traum von den eigenen vier Wänden noch in diesem Leben verwirklichen wollte, machten sich die beiden Männer auf ins Ausland und sind nun Teil des Heeres von Polen, die außerhalb ihrer Heimat Arbeit gesucht und gefunden haben. „Seit über zwei Jahren sind sie in England“, erzählt Katarzyna. Dort verdienten sie auf dem Bau viel Geld, sehr viel Geld, ein Vielfaches dessen, was in Polen bezahlt werde. Eigentlich sei ihr Mann Automechaniker, aber das Mauern habe er schnell gelernt. Fast der gesamte Lohn fließt in das Haus, das langsam in die Höhe wächst.

Genaue Zahlen, wie viele Polen im Ausland arbeiten gibt es nicht. Offiziell wird von rund 600 000 geredet, Schätzungen gehen aber davon aus, dass es rund zwei Millionen sind.

An diesen Zahlen wird – da sind sich alle Beobachter sicher – auch der jüngste Regierungswechsel in Polen nichts ändern. Zwar hat der Wahlsieger Donald Tusk einen grundlegenden Kurswechsel in der Innen- und Außenpolitik angekündigt, doch wirtschaftlich wird sich zunächst wenig ändern. Es geht stetig bergauf in Polen aber die Menschen brauchen Geduld. Der Aufholprozess dauert.

Derweil helfen sich viele wie die Familie Musial. Der Mann geht nach Irland oder England und schickt jeden Monat eine große Menge des verdienten Geldes in die Heimat. Im vergangenen Jahr flossen so insgesamt 3,45 Milliarden Euro nach Polen. In diesen Tagen veröffentlichte die Polnische Zentralbank die neuesten Zahlen für 2007, die einen Rekord versprechen. In den ersten sechs Monaten seien fast 20 Prozent mehr Geld von den Emigranten zurückgeflossen als im gleichen Zeitraum 2006. Das heißt, dass die „Ausländer“ am Ende über vier Milliarden Euro nach Hause geschickt haben werden.

Seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004 hat sich die Summe damit verdoppelt. „Dieses Geld strömt in unser Land, wie die jährlichen Subventionen der Europäischen Union“, zieht Lukasz Tarnawa, Volkswirt bei der polnischen Bank PKO BP, einen Vergleich. Der Milliardentransfer habe eine enorme, positive Auswirkung auf die gesamte Volkswirtschaft, sind sich die Experten einig.

Ein großer Teil des Geldes werde – wie das bei der Familie Musial der Fall ist – direkt wieder investiert, wird vorgerechnet. Das steigere das Wirtschaftswachstum in Polen um mindestens 0,1 bis 0,2 Prozentpunkte. An die neue liberal-konservative Regierung in Warschau richten die Volkswirte die Forderung, diesen positiven Trend zu nutzen und nun die Neuverschuldung des Landes zu senken. Die bewegt sich in Polen immer noch bei rund vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Piotr Kalisz, Volkswirt der Citibank, glaubt, dass der Geldstrom der Emigranten in Richtung Heimat auch in den kommenden Jahren noch weiter zunehmen wird. Er sieht noch einen anderen positiven Trend. „Viele Polen, die in den kommenden Jahren zurückkehren, werden ihr erspartes Geld nicht nur in den Konsum von Waren stecken“, erklärt er und glaubt, dass sich ein erheblicher Teil der ehemaligen Emigranten mit ihren Ersparnissen selbstständig machen, ein Geschäft eröffnen und so langfristig zum Wirtschaftswachstum beitragen wird.Von dem neuen Wohlstand profitierten alle, erklärt Lukasz Tarnawa, auch die ärmeren Schichten. Als Beweis führt der Volkswirt Zahlen des Statistikamtes an. Danach hat sich im Verlauf des vergangenen Jahres die Anzahl der Personen, die am Existenzminimum lebten von drei Millionen auf 1,7 Millionen verringert. In Polen heißt das, dass ein Haushalt mit vier Personen mit rund 250 Euro im Monat auskommen muss. Der Wirtschaftsaufschwung habe auch im Inland zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen, die nun gut bezahlt würden.

In den Augen der Volkswirte ist Katarzyna Musial also Teil einer Musterfamilie. Denn die Pläne für die Zeit nach der Rückkehr ihres Mannes sind bereits geschmiedet. Er wolle als Automechaniker eine Werkstatt aufmachen, sagt seine Frau.

Knut Krohn

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