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Wirtschaft: Erna Wieland

Geb. 1905

Eine Buchhalterin mit gewissem Sinn fürs Höhere. Das war’s? Nicht ganz. Im Haushaltsbuch ist alles auf Mark und Pfennig vermerkt: Miete, Telefon, Rundfunk, Zeitung, Lebensmittel, Apotheke, und, ein respektabler Posten, der Friseur.

Sie hielt auf sich. Immer schon.

Ihre Zeugnisse waren alle von gleicher Art, von Beginn an: Betragen: lobenswert. Fleiß: sehr gut. Gesang und Zeichnen: ebenfalls sehr gut

Die Stimme hatte sie von der Mutter, das Talent zur Kalligraphie vom Vater. Er hatte gemalt und Holzintarsien geschnitzt. Eigentlich gelernter Maurer, dann Fliesenleger, aber mit Hang zum Höheren. Seine Feldpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg sind an handschriftlicher Akkuratesse nicht zu übertreffen. Und er war ein Meister des Reims, des angelesenen. Das Poesiealbum, das er seiner Tochter schenkte, enthält eine reich verzierte Blütenlese letzter lyrischer Weisheiten. Ein Vademekum in Versen, das er ihr mit auf den Weg gab, auf dass sie nie ganz einsam sein würde.

Eine selbstständige Frau. Keineswegs altjüngferlich. Über Abenteuer hat sie nicht Buch geführt, also gab es vermutlich keine. Aber sie war umtriebig, viel auf Reisen, neugierig, auch aufs Mondäne. Das Recht eines zweiten Lebens – zu Lebzeiten. Eine Berliner Bilanzbuchhalterin auf Urlaub in San Remo.

Das Arbeitsbuch, ausgestellt 1935, mit Reichsadler und Hakenkreuz gestempelt, listet alle beruflichen Stationen auf. Bevorzugt erstellte sie Bilanzen für Damenwäschekonfektionsbetriebe. Sieben Jah- re arbeitete sie in der jüdischen Konfektionsfirma Fließer & Rosenthal. Als der Betrieb zu Gunsten arischer Konkurrenten enteignet wurde und Erna Wieland zu „Müller & Müller, vorm. Wellmann & Wassermann“ wechselte, schenkte ihr ihre ehemalige Prinzipalin zum Abschied ein Bild von sich: „Meiner lieben Erna zur Erinnerung an ihre Mut- ti“. Mutti starb im jüdischen Krankenhaus, die Söhne sind verschollen.

Zwei Möbelstücke, die Erna Wieland bis an ihr Lebensende in Ehren hielt, stammten aus der Haushaltsauflösung dieser Familie. Ein Schrank und eine Anrichte, zwischen den Türen eine Nische, um das Geschirr, von dem man Milchprodukte isst, von dem Geschirr, auf dem Fleisch serviert wurde, trennen zu können.

In der Wirtschaftswunderzeit war sie bei Maria Schwarzlose angestellt, Modellblusen, einer der vielen Textilbetriebe in Berlin, die nach dem Krieg Liquidation anmelden mussten. Erna Wieland ist immer erst gegangen, wenn die Firmen Liquidation anmeldeten. Zwar wurde ihr Sinn für Zahlen noch immer sehr geschätzt, aber angesichts ihres Alters wurde der Ton der Arbeitgeber doch sachlicher. Ihr letztes Zeugnis vermerkt knapp: „Wegen Erreichung der Altersgrenze (unter Berücksichtigung der gesetzlichen Kündigungsfrist) entlassen“.

Sie war in der Angestelltengewerkschaft. Vom ersten Arbeitstag an. Was sie bekam zu ihrem 80-jährigen Jubiläum, war eine von Frank Bsirske maschinenschriftlich unterzeichnete „EhrenUrkunde“ auf billigem blauem Papier mit einer Anstecknadel „80 ver.di“. Keine Einladung. Kein Blumenstrauß.

Eine Buchhalterin. Allein stehend. Mit einem gewissen Sinn fürs Höhere. Das war’s?

Nicht ganz.

Auf Helgoland hatte sie noch lange vor dem Krieg einen Mann kennen gelernt, der sie ernst nahm, und der ihr etwas bedeutete: Hilmar. Der Sohn einer Freundin trug später den Namen.

Hilmar erzählte ihr von Rudolf Steiner, von der anthroposophischen Lehre, über die man viel Kluges reden kann und auch viel Kritisches. Jedenfalls sollte man respektieren, dass es eine Denkungsart ist, die den Menschen entgegenkommt.

Erna Wieland war eine viel zu gewissenhafte Buchhalterin, als dass sie nicht bemerkt hätte, dass die Menschen gar nicht so dumm sein wollen, wie sie gemacht werden. Es gibt einen privaten wie öffentlichen Saldo an Sinn. Den konstatierten zwischen den Kriegen viele. Aber Rudolf Steiner verstand es im Umgang mit dieser Sinnfrage seinen Anhängern den Eindruck zu vermitteln, es interessiere sich einer für sie. Nicht Gott, nicht die Nation, ich bin es, der wichtig ist, denn es ist mein Leben, und das will ich zu einem guten Ende bringen. „Meine Sendung in der Welt ist keine vorherbestimmte, sondern sie ist jeweilig die, die ich mir erwähle. Ich trete nicht mit gebundener Marschroute meinen Lebensweg an.“

1932 begann Erna Wieland die Ausbildung als Eurythmielehrerin. Das Zeugnis vermerkt, dass sie „im Sinne der am Goetheanum gepflegten Kunst, Laut und Ton Eurythmie… gelernt hat“.

Als sie dann pensioniert wurde, begann ihr neues Leben: Sie gab vier Kurse die Woche: Montags zwei, Donnerstag zwei. Fünfzig Schülerinnen. Eine ordentliche Geige, ein gutes Klavier, mehr war nicht nötig.

Eurythmie im Sinne Steiners ist die Kunst der Bewegung. Das Leben wird von Rhythmen geprägt, also gilt es, den eigenen Rhythmus zu finden, den Körper in Einklang zu bringen mit dem Kopf. Die Musik hilft dabei und die Sprache.

Jeder gute Vers hinterlässt eine Spur im Körper, jeder Satz lässt sich gestikulieren, jeder Buchstabe hat einen Echoraum an Gefühlen.

Das „A“ ist ein Erstaunen, das durch den ganzen Körper geht. Das ruhende „U“, das kräftigende „I“, das flächige „E“. Sich diese Kraftquellen der Sprache zu erschließen, bringt Ruhe und nicht selten ein hohes Alter.

Erna Wieland gab noch mit dreiundneunzig Jahren Unterricht. Von Zerstreuungen hielt sie ohnehin nichts. Abends ausgehen, Freunde sehen, Zeit vertun, die sie mit der Lektüre der Schriften Rudolf Steiners viel besser zubringen konnte? Warum denn?

Sie fand Ruhe in sich selbst, das verstellte ihr manchmal den Blick auf andere. Der Egoismus der Einsamen. Andererseits, wenn jede ihrer Schülerinnen wiederum fünfzig Schüler für die gute Sache warb, so die einfache Rechnung, dann war die Bilanz eine respektable. Viele mögen sich für klüger gehalten haben als Erna Wieland – aber die hat sie alle überlebt.

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