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Wirtschaft: EU-Kommission lässt Eichel doch noch Luft

Deutschland muss überraschend keinen Sanierungsplan vorlegen, weil die EU Fortschritte beim Defizitabbau sieht

Berlin (asi). Finanzminister Hans Eichel (SPD) ist überraschend von der Pflicht entbunden worden, der EUKommission bis zum heutigen 21. Mai nachzuweisen, wie er den deutschen Staatshaushalt sanieren will. „Es besteht keine Notwendigkeit, über den Fall Deutschland zu sprechen“, sagte der Sprecher von Währungskommissar Pedro Solbes, Gerassimos Thomas, dem Tagesspiegel. Der Grund: Eichels Staatssekretär Caio Koch-Weser und der Brüsseler Spitzenbeamte Klaus Regling haben errechnet, dass es dem Finanzminister gelungen sei, das „strukturelle Defizit“ der Haushalte in diesem Jahr bereits um 0,75 Prozent zu senken.

Der deutsche Finanzminister, so der Sprecher des EU-Währungskommissars, habe den Finanzministern in den vergangenen Wochen plausibel erläutert, welche Schritte zur Haushaltskonsolidierung eingeleitet wurden und zugesagt, das gesamtstaatliche Defizit 2004 wieder unter die Stabilitätsmarke von drei Prozent zu senken. Eine Überschreitung dieser Marke in diesem Jahr habe die Kommission aus konjunkturellen Gründen gebilligt. Die „kontinuierliche Beobachtung“ der deutschen Haushaltspolitik werde fortgesetzt, sagte der Sprecher.

Nach Informationen des Handelsblattswird die Kommission in ihrem Bericht zu den Staatsfinanzen, den sie vorlegen will, die Bundesregierung auffordern, die wachsenden Probleme bei den Ausgaben im Gesundheitsbereich und bei den Renten schneller anzupacken. Durch die Überalterung der Bevölkerung drohten große Risiken, die die Staatsverschuldung in die Höhe treiben könnten. Allerdings steht laut Solbes-Sprecher Thomas eine Bewertung der deutschen Finanz- und Haushaltspolitik weder auf der Tagesordnung der Kommissionssitzung am Mittwoch in Brüssel noch beim Gipfel der EU-Finanzminister im Juni in Thessaloniki.

EU-Kommission und Finanzministerrat geben Hans Eichel aber zunächst innerhalb des laufenden Defizitverfahrens gegen Deutschland viel Spielraum. Denn als Folge der Überschreitung der Drei-Prozent-Marke des Maastrichter Vertrages im vergangenen Jahr wurde Mitte Januar ein offizielles Defizit-Verfahren gegen Deutschland eröffnet. Seinerzeit hatte die Kommission noch bis zum 21. Mai einen „detaillierten Bericht“ über Maßnahmen zum Abbau des Defizits von Eichel gefordert.

In der Zwischenzeit, so heißt es in Brüssel, habe es zahlreiche Kontakte zwischen dem deutschen Finanzstaatssekretär Koch-Weser und dem deutschen Generaldirektor für Wirtschafts- und Finanzpolitik bei der EU, Regling, gegeben. Deren Berechnungen hätten ergeben, dass es der Bundesregierung durch ihre Politik gelungen sei, das so genannte strukturelle Defizit in den Haushalten 2003 um 0,75 Prozent zu senken. Das strukturelle Defizit ist ein um das konjunkturelle Defizit verminderter Teil des gesamtstaatlichen Defizits, das den Bestimmungen des Maastricht-Vertrages zugrunde liegt.

Zum Abbau dieses strukturellen Defizits seien bislang eine ganze Reihe Maßnahmen ergriffen worden, hieß es am Dienstag auch im Bundesfinanzministerium. Dazu gehörten unter anderem das Notprogramm von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zur Beitragsstabilisierung der Krankenkassen vom Jahresanfang, Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz, Öffnungsklauseln im Beamtenrecht und die Begrenzung der Kosten von Arbeitslosigkeit durch die Hartz-Reform.

Wissenschaftler wie der niedersächsische Professor Stefan Homburg bezweifeln allerdings die Belastbarkeit der Berechnungen des strukturellen Defizits. „Die Regierung hat in diesem Jahr kein einziges Gesetz erlassen, das das strukturelle Defizit in Deutschland verringert“, sagte Homburg, der Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Finanzminister Eichel ist, dieser Zeitung. „Und schon gar nicht um 0,75 Prozent.“ Selbst das Steuervergünstigungsabbaugesetz, dem Homburg Defizit senkende Elemente zubilligt, sei nur in Teilen vom Bundesrat bestätigt worden. Die Maßnahmen im Gesundheitsbereich berührten das Defizit „in keiner Weise“. Homburg zweifelt sogar grundsätzlich an der Aussagekraft des strukturellen Defizits. Weil es eine Ansichtssache sei, wie groß der Konjunktureinfluss auf ein Defizit ist, bezeichnet er es als „politisch manipulierbar“. Und angesichts der Defizitüberschreitungen auch von Frankreich, Italien und Portugal überrasche ihn die Schonung von Hans Eichel nicht. „Wo Sünder über Strafen für das Sündigen urteilen, darf man nicht allzu viel erwarten.“

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