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Wirtschaft: Felicitas Hübbe-Haunert

(Geb. 1925)||„In einem Chor muss Strenge herrschen. Sonst wird das nichts.“

„In einem Chor muss Strenge herrschen. Sonst wird das nichts.“ Berlin, 1945. Frauen schleppen Steine. Männer sind nur wenige zu sehen. Eine junge Lehrerin beugt sich hinab zu einem Kind mit löchrigen, viel zu großen Schuhen. Das Kind weint. Winzige schmutzige Rinnsale laufen über das aufgeweichte Gesicht. „Sag mir, warum du so traurig bist.“ – „Meine Mutter“, schluchzt das Kind, „sie hat heute Geburtstag. Und es gibt nichts, was ich ihr schenken könnte.“ Die junge Lehrerin denkt einen Moment nach. Dann holt sie eine Gruppe von Jungen und Mädchen zusammen, und gemeinsam laufen sie zur Mutter des weinenden Kindes. Sie bauen sich in einer kleinen Reihe auf und singen ein Geburtstagslied.

Aus dem spontanen Ständchen wurde der Berliner Kinderchor. Und aus der jungen Lehrerin die Leiterin des Chores.

Früh schon hatten sich Talent und Beharrlichkeit gezeigt. An der Singschule des Konservatoriums der Reichshauptstadt lernte sie, die Geige und die Blockflöte zu spielen. Jedoch für Stunden am Klavier reichte das Geld nicht mehr. Also unterrichtete sie sich selbst. An den Abenden zeigte Felicitas ihren Eltern, was sie gelernt hatte. Gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder an der Geige gab sie kleine Familienkonzerte: Mozart, Schubert, alte Volkslieder.

Während über dem Bruder die Welt zusammenbrach, dröhnend im Bombenhagel, verstummten die sanften Melodien in seinem Kopf. Er überlebte den Krieg nicht.

Felicitas durchläuft die Lehrerinnen-Bildungsanstalt, Schwerpunkt Musik, und unterrichtet an einer Kreuzberger Schule. Sie studiert, in Berlin und Salzburg, legt ihr Staatsexamen ab, bildet sich weiter an der Hochschule für Musik, lernt das Dirigieren und Komponieren.

1948 heiratet sie Bernhard Haunert. Kurz darauf bekommt sie ihr erstes Kind. 1953, schreibt sie im Lebenslauf: „Ich wurde schuldlos geschieden.“ Sie ist nun eine, wie heute gesagt wird, alleinerziehende Mutter. Wurde sie von den Nachbarn gegrüßt wie jede andere?

Felicitas hat keine Zeit, sich mit derlei Dingen zu beschäftigen. Am Vormittag ist sie bei den Schulkindern, am Nachmittag und Abend bei den Chorkindern. Und dann trifft sie Walter Hübbe, der selbst Musik macht und im Vorstand des Oratorienchores tätig ist. Sie bekommt einen zweiten Sohn und eine Tochter, probt unaufhörlich, organisiert Auftritte, korrigiert zwischendurch Schulaufsätze und dirigiert überdies den Polizeichor. „Ali Baba und die 40 Räuber“ nennen die Leute Felicitas und ihre singenden Männer.

„Resolut war unsere Mutter“, sagt die Tochter, „resolut ist das richtige Wort. Aber in einem Chor muss nunmal eine gewisse Strenge herrschen. Sonst wird das nichts.“ Felicitas’ Strenge macht einen Teil des Erfolges des Berliner Kinderchores aus. Das Telefon läutet unentwegt. Kirchen, Fernsehproduzenten, das ICC. Toni Marschall und Udo Jürgens wollen mit den Kindern singen. Das Theater des Westens engagiert den Chor für die „Evita“-Inszenierung. Bei der Eröffnungsgala des ICC stehen die kleinen Sänger in dunklen Blazern und weißen Blusen neben einer in funkelnde Pailletten gehüllten Liza Minelli.

Irgendwann jedoch fällt Felicitas auf, dass ein Tag nicht unendlich viele Stunden hat. 1984 zerbricht ihre zweite Ehe. Dennoch, weiter. Es gibt so viel zu tun. Auch um den Nachwuchs muss sich jemand kümmern. Wer entscheidet, welches Kind mitsingen darf? Die Jury besteht aus einer einzigen Person. Felicitas Hübbe-Haunert. Aber auch die wird älter, ihre Augen werden schlechter. Die Noten auf dem Papier verschwimmen. Seit geraumer Zeit denkt man darüber nach, irgendwann stellt man die Frage deutlich: Wer soll nach ihr die Leitung des Chores übernehmen? Nach langem Suchen ist endlich eine kompetente Person gefunden. Auch eine Frau. Felicitas ist beruhigt.

Vielleicht kann sie nur deshalb loslassen, weil in ihren letzten beiden Lebensjahrzehnten eine dritte große Liebe bei ihr ist.

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