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FINANZKRISE: In der Krise selbstbewusst

20.000 Londoner Banker verloren ihren Job – aber die meisten sehen darin eine Chance. Die Inseleuropäer stehen der Finanzkrise selbstbewusst gegenüber.

Am 15. September hörte Steve Shaker am Morgen im Radio, dass sein Arbeitgeber Lehman Brothers in New York Konkurs gemacht hatte. Sofort rief er einen Personalberater an. "Als ich an diesem Tag viel zu spät zur Arbeit kam, war alles schon vorbei", sagt er. 4000 Mitarbeiter der Bank hatten ihre persönliche Habe in Kartons aus dem Büro getragen und waren in die Pubs um das Lehman Gebäude an der Canary Wharf ausgeschwärmt. Psychologe Peter Morgan, der Spitzenbankern beim "Aufwärts- und Abwärts-Management" ihrer Karrieren hilft, spricht von dem "Euphoriemoment", wenn alles im Umbruch ist. Steve machte noch an diesem Tag ein Bewerbungsgespräch für einen neuen Job aus - den er tatsächlich bekam. "Ich hatte Glück. Aber es war ein Schock", sagt Shaker. "Wir hatten keine Ahnung, was passieren würde."

Die Entlassungen bei Lehman traten eine Lawine los, die durch ganz London rollte. Denn die Stadt hängt am Tropf der Vielverdiener in der Finanzindustrie. Ende September war die Arbeitslosenquote in der britischen Hauptstadt auf 7,5 Prozent geklettert - ein Anstieg um fast 40 000 in nur drei Monaten, der schnellste im Land. Laut dem Börsenmakler Collins Stewart sind europaweit 40 000 Jobs in Banken verloren gegangen - die Hälfte davon in London.

Kindermädchen werden als erstes entlassen

Aber Banker sehen in die Zukunft und halten sich nicht mit der Vergangenheit auf. So rasch und entschlossen wie Steve handeln nun viele. So stehen in einem einzigen Block im Wohlstandsviertel Belgravia bereits 31 Luxuswohnungen leer - die Bewohner kündigten ihre Mietverträge sofort, als sie sahen, dass sie sich die Miete nicht mehr leisten können. Dutzende von Kindermädchen wurden laut der Agentur Abbeville Nannies im September entlassen. "Wenn beide Eltern arbeiten und einer den Job verliert, wird als Erstes das Kindermädchen entlassen", berichtet Direktorin Kate Barker.

Auf dem Arbeitslosenamt tauchen entlassene Banker kaum auf. Sie greifen auf ihre persönlichen und finanziellen Ressourcen zurück. So meldete der Klempnerbetrieb "Pimlico Plumbers" laut der Londoner Abendzeitung "Evening Standard" einen "scharfen Anstieg" der Bewerbungen. Laut der Freiwilligenagentur "Voluntary Services Overseas" will eine beträchtliche Zahl ehemaliger Finanzarbeiter die Rezession "dazu nutzen, der Gesellschaft etwas zurückzugeben".

Der Trend geht zur Selbstständigkeit

Bewerbungen für Lehrerausbildungen sind um acht Prozent gestiegen - im Mangelfach Mathematik sogar um 24 Prozent. Die Ausbildungsagentur für Lehrer, eine Regierungsorganisation, führte im September zwei Werbeveranstaltungen in Luxushotels in der Nähe von Canary Wharf durch. Schon bei der ersten schrieben sich 25 ehemalige Lehman-Angestellte für die einjährige Ausbildung ein. "Sie erhalten ein wettbewerbsfähiges Gehalt und können Erfahrungen wie Kommunikationsfähigkeiten oder Teammanagement einbringen", berichtet der Direktor der Agentur, Graham Holley.

Die britische Ausbildungsorganisation "City & Guilds" fand vor ein paar Jahren schon heraus, dass sich vor allem Büroarbeiter nach flexibleren und abwechslungsreicheren Jobs umsehen. Medienarbeiter wollen am liebsten freiberufliche Autoren werden, Rechtsanwälte Bauer oder Gärtner, Lehrer Koch und IT- Spezialisten am liebsten Sozialarbeiter.

Viele in der Gesellschaft sehen Banker nun nicht nur als Opfer, sondern auch als Verursacher der Krise. Steve Shaker glaubt nicht, dass es im Selbstbewusstsein seiner Kollegen einen Knick gegeben hat: "Wir waren alle eigentlich ziemlich stolz auf das, was wir bei Lehman gemacht haben", sagt er.

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