zum Hauptinhalt

Finanzkrise: Wall Street Enemy Nr. 1

Das Jahr 2008 war für die Banker ein Horrortrip. Banken wurden geschlossen und ihr Geschäft eingestampft. Im Herbst rollten viele Köpfe in den Banken. Ob und wie die verantwortlichen Spekulanten zur Verantwortung gezogen werden steht in den Sternen.

Winthrop Smith junior ist am frühen Morgen des 5. Dezember 2008 tief bewegt. Es ist der Tag, an dem die letzte große Investmentbank der Wall Street, die 1916 von Smiths Vater mitgegründete Merrill Lynch, endgültig untergeht. „Es ist, als ginge man zu einem Begräbnis“, gibt der drahtige Endfünfziger auf dem Parkett der New Yorker Börse einer kleinen Gruppe von Händlern und Reportern Einblick in sein Seelenleben. Seine müden Gesichtszüge straffen sich erst, als er auf den Schuldigen zu sprechen kommt. Man hat der Bank die Seele herausgerissen“, sagt er und meint Ex-Merrill-Chef Stan O’Neal.

Um 8 Uhr treffen sich die Aktionäre im World Financial Center 4, direkt neben Ground Zero und nur wenige Blocks von dem Ort entfernt, an dem Charlie Merrill, Edmund Lynch und Winthrop Smith senior vor knapp hundert Jahren die Bank gegründet hatten. Eine gute Stunde später melden die Nachrichtenagenturen Vollzug, die Bank ist verkauft.

Es war ein Horrorjahr selbst für die an das Auf und Ab gewöhnte Wall Street. Im Frühjahr hatte sich Bear Stearns nur durch Notverkauf vor dem Bankrott retten können, Lehman Brothers musste Mitte September Insolvenz anmelden, und Goldman Sachs sowie Morgan Stanley konnten sich nur durch Umwandlung in eine Geschäftsbank retten. Auf sie warten nun harte Regulierungsmaßnahmen, die ihnen ein risiko- und ertragreiches Investment-Banking unmöglich machen.

Auslöser der Panik des Jahres 2008 war das Scheitern eines Experiments. Ein Experiment, das die Finanzbranche seit 2002 betrieben hatte und das 2007 scheiterte. Mithilfe von geliehenem Geld, hoher Risikobereitschaft und dem Glauben an die Sicherheit neuer Finanzinstrumente hatten vor allem US-Banken versucht, ein uraltes Gesetz der Finanzwirtschaft aus den Angeln zu heben: den Gleichklang des Gewinnwachstums der Kreditinstitute und der restlichen Wirtschaft. In den wenigen Jahren der schönen neuen Welt der Wall Street gelang es den Finanzakrobaten, das außer Kraft zu setzen. Kurz vor dem Platzen des Booms 2007 erzielten die Banken ein gut zweimal höheres Wachstum als der Rest der US-Wirtschaft.

Larry Tabb, Ex-Lehman-Mitarbeiter und heute Unternehmensberater, kennt die Bestandteile des explosiven Branchen-Cocktails: „Zweifelhafte Kredite, komplexe Derivate und Spekulation mit zu viel geliehenem Geld.“ Basis für das Experiment war zunächst die Ausgabe von Hypotheken an Menschen, die sich eigentlich keine Häuser leisten konnten. Das Ausfallrisiko dieser zweitklassigen, „Subprime“ genannten Finanzierungen ließ man sich mit hohen Zinssätzen bezahlen. Um die Ausfallrisiken nicht in der Bilanz zu haben, wurden die Kredite in Derivate verpackt und an andere Banken weiterverkauft. Weil das so gut klappte, wurden immer mehr Kredite vergeben, deren Ausfall eigentlich schon am ersten Tag absehbar war.

Von Anfang 2005 bis zum Platzen der Blase Mitte 2007 wurden so riskante Kredite im Wert von 1,2 Billionen Dollar ausgegeben. Die Banken machten dann den weiteren Fehler, mit geliehenem Geld in diese Wertpapiergattung auch selbst zu investieren. Das geborgte Geld nutzten sie, um die Rendite auf das eingesetzte eigene Kapital zu vergrößern. „Durch den Einsatz von Fremdkapital in Höhe des 35-Fachen des Eigenkapitals konnte die Branche allein 2005 aus 500 Milliarden Dollar an Subprimekrediten einen Gewinn von 18,8 Milliarden Dollar machen“, rechnet Ex-Lehman-Mitarbeiter Tabb vor.

Als die Kredite auszufallen begannen, schossen zunächst die Abschreibungen und damit die Verluste der US-Investmentbanken in die Höhe. Ein erstes Warnsignal war der Kollaps mehrerer von Bear Stearns betriebener Hedgefonds. Dann traf es die deutsche Mittelstandsbank IKB. Diese hatte sich mit sogenannten „Collateralized Debt Obligations“ (CDOs) verspekuliert, in denen US-Subprimekredite mehrfach aufgesplittet und zu neuen Paketen zusammengeschnürt waren. Im März 2008 erwischte es dann mit Bear Stearns die kleinste US-Investmentbank.

Wie jede Krise, so hat auch diese ihre Protagonisten. Für die einen ist es Jimmy Cayne, der langjährige Chef von Bear Stearns. Für anderen Dick Fuld, der Chef von Lehman Brothers, der sein Scheitern bis zuletzt nicht wahrhaben wollte. Das Magazin „New York“ erklärte Fuld zum „Wall Street Public Enemy Nr. 1“. Für Winthrop Smith jr. ist es Stan O’Neal. 2002 an die Spitze von Merrill Lynch gekommen, blies O’Neal zur Aufholjagd gegenüber den in der Subprime-Branche erfolgreicheren Konkurrenten. Er setzte dabei vor allem auf CDOs, die Derivategattung, die bereits die IKB ins Verderben geführt hatte. Um genügend Kredite zu beschaffen, die man in CDOs verpacken konnte, kaufte er zwischen 2005 und Januar 2007 nicht weniger als zwölf auf den Vertrieb der zweitklassigen Darlehen spezialisierte Hypothekeninstitute. Im Oktober 2007 musste O’Neal dann acht Milliarden Dollar an Abschreibungen verkünden – und abtreten. Seinem Nachfolger John Thain blieb nur noch die Abwicklung.

Thain war es, der beim Showdown im Hauptquartier der New Yorker Fed am entscheidenden Wochenende Mitte September unter dem Druck der Ereignisse die richtige Entscheidung fällte. Dort trafen sich am Freitag, dem 12. September, US-Finanzminister Henry Paulson, der Chef der New Yorker Notenbank Tim Geithner und die Chefs der Investmentbanken zur entscheidenden Krisensitzung. Vorausgegangen war eine Woche, in der die Aktien von Lehman und Merrill um gut 60 Prozent eingebrochen waren. Beide Banken standen mit dem Rücken an der Wand. Bis zur Eröffnung der asiatischen Märkte am Montag musste eine Lösung her.

Am Anfang lief es für Lehman besser als für Merrill. „Freitagnacht glaubten wir, wir wären uns mit der Bank of America über eine Übernahme einig“, erzählt ein Lehman-Manager später. Merrill-Chef Thain geriet in der Nacht in Panik. Am Samstagmorgen rief er Bank-of- America-Chef Kenneth Lewis an. Mitte der Woche hatte Thain eine Übernahmeofferte von Lewis noch abgelehnt. Jetzt kroch er zurück, und Lewis biss an. „Ironischerweise dürften die vielen Filialen, über die Merrill seine Subprimekredite vertrieben hat, ein wichtiger Grund für den Ausgang der Geschichte gewesen sein“, sagt der Leiter des Investment-Bankings einer europäischen Bank. „Sie sind ein perfekter Vertriebskanal für Lewis.“

Fuld, der bis zuletzt gehofft hatte, Finanzminister Paulson würde sein Haus auffangen, musste in der Nacht zum Montag Insolvenz anmelden. Thain dagegen trat am selben Tag mit Lewis vor die Presse, um so etwas wie die Rettung Merrills zu feiern. Für seine Instinktentscheidung wird er heute an der Wall Street respektiert – und darf als Leiter des Investment-Bankings des neuen Konzerns weitermachen. Anders als 35 000 Mitarbeiter, deren Jobs nach der Übernahme gestrichen wurden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false