zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Fitness-Programm zum Jubiläum

150 Jahre nach der Gründung ist der Konzern voll im AufbruchVON THOMAS MAGENHEIMDer größte Elektrokonzern Europas - und zugleich noch immer größte private Arbeitgeber Berlins - wird am heutigen Mittwoch 150 Jahre alt.Am 12.

150 Jahre nach der Gründung ist der Konzern voll im AufbruchVON THOMAS MAGENHEIM

Der größte Elektrokonzern Europas - und zugleich noch immer größte private Arbeitgeber Berlins - wird am heutigen Mittwoch 150 Jahre alt.Am 12.Oktober begeht die Siemens AG, Berlin/München, dieses Jubiläum mit einer Feier in der Geburtsstadt an der Spree in Anwesenheit von Bundeskanzler Helmut Kohl.Als Keimzelle des Multis gilt ein Hinterhof in der Schöneberger Straße 19.Dort nahm am 1.Oktober 1847 das heutige Weltunternehmen als Zehn-Mann-Firma der Gründerväter Werner von Siemens und Johann Georg Halske seinen Betrieb auf.Heute beschäftigt der Elektro-Generalist weltweit 390 000 Frauen und Männer, davon 19 000 in der Bundeshauptstadt. Mehr denn je steht Siemens in seinem Jubiläumsjahr aber im Umbruch, und das trifft vor allem die Belegschaft.Eine von Siemens-Chef Heinrich von Pierer verordnete Roßkur soll das deutsche Vorzeigeunternehmen bis zur Jahrtausendwende zum hochprofitablen Global Player machen."Wir haben Nachholbedarf beim Geldverdienen", hat von Pierer erkannt und in einer Art Kulturrevolution den "schlafenden Riesen" unter Deutschlands Konzernen in Bewegung gebracht. Seit 1993 läuft das Fitness-Programm namens Top, das die Siemensianer endgültig in die Spitze der Weltkonzerne katapultieren soll.In seinem Schlepptau kommen Innovationen, Profite, Wachstum und Stellenabbau.Seit Jahren streicht Siemens im Inland Arbeitsplätze und steigert zugleich nahezu ungebrochen seine Gewinne.Das Spannungsfeld von Börse und Aktionär einerseits sowie sozialer Verantwortung und Belegschaft andererseits tritt immer deutlicher zutage.Die Zahl der im Inland tätigen Mitarbeiter wird im laufenden Jahr erstmals unter jene der im Ausland beschäftigten Siemensianer sinken.Seit 1992 hat der Konzern rund 50 000 einheimische Stellen gestrichen und zählt nun in Deutschland noch rund 200 000 Personen auf seinen Lohnlisten.In Berlin wurden im gleichen Zeitraum 7000 Stellen abgebaut.Ein Ende dieser Tendenzen ist nicht in Sicht. Der Siemens-Umbruch drückt sich aber nicht nur im Personal aus.Auf Ebene der 250 Geschäftsfelder spricht von Pierer vom "differenzierten Ausjäten".Das heißt, Siemens verkauft Sparten, die nicht die nötige Profitabilität versprechen und aus dem Kreis der sogenannten Kerngeschäftsfelder verstoßen werden.Demnächst trifft es die Siemens-Rüstungssparte mit einem Umsatz von 1,2 Mrd.DM und 4500 Mitarbeitern.Als Käufer wetteifern die französische CSF-Thomson und die deutsch-britische Bietergruppe Dasa/British Aerospace um den Zuschlag.Insgesamt will von Pierer 1997 im Umfang von 6 Mrd.DM Geschäftsfelder aussortieren.Seit 1994 hat diese Strategie bereits ein Geschäft mit 2,5 Mrd.DM Umsatz und 12 000 Mitarbeiter getroffen. Trotz des Ausjätens und einer Steigerung der Produktivität um 30 Mrd.DM im Rahmen des Top-Programms wähnt die Konzernspitze das Unternehmen aber noch lange nicht am Profitabilitätsziel.Erst zwei Drittel aller Geschäftsfelder lägen weltweit an den führenden Positionen, die Profite auf angestrebtem Niveau ermöglichen, erinnert von Pierer zum Jubiläum."Schon ab der Nummer drei ist es in der Regel schwer, Geld zu verdienen", sagt der Siemens-Chef und gibt die Marschrichtung vor.Bis zum Jahr 2000 soll die Eigenkapitalrendite von derzeit zehn auf 15 Prozent wachsen. Deshalb stößt Siemens nicht nur Geschäfte ab, sondern kauft auch kräftig zu, wo strategisch wichtige Felder gestärkt werden müssen.Jüngste Beispiele dafür sind die Schweizer Elektrowatt und AEG Electrocom.Das Management hat nicht nur eine defensive Kostenschlacht auf den Weg gebracht, sondern auch eine Offensive, die in Wachstum und Marktanteile münden soll.Für das Jahr 2000 ist ein Konzernumsatz von 130 Mrd.DM geplant.Im gerade beendeten Geschäftsjahr 1996/97 dürften die Erlöse erstmals über die Grenze von 100 (Vorjahr 94,2) Mrd.DM geklettert sein.Nur noch ein Viertel seines Geschäfts wird Siemens wohl zur Jahrtausendwende am Heimatmarkt machen - derzeit sind es noch 39 Prozent.Auch für den Konzern liegen die Wachstumsmärkte in Asien, wo derzeit mit Hochdruck Geschäft und Personal aufgebaut wird.Das dem Unternehmen hartnäckig anhaftende Image von der Bank mit angeschlossener Elektroabteilung gerät angesichts der massiven Änderungen im operativen Geschäft ins Wanken, obwohl die Kapitalanlagen mit einem Volumen von 20 Mrd.DM immer noch maßgeblich zum Konzernüberschuß von zuletzt 2,5 Mrd.DM beitragen. Der Siemens-Wandel drückt sich aber auch in Aspekten aus, die zunächst weniger offensichtlich sind wie Stellenverlagerungen, Zu- und Verkäufe.Fast lautlos wird der Elektrokonzern derzeit zum Softwarehaus.Computerprogramme für die Industrie bestimmen mit nahezu 50 Mrd.DM schon rund die Hälfte aller Umsätze, rechnete Siemens-Chefforscher Claus Weyrich jüngst vor.Und auch das Wort von der Dienstleistungsgesellschaft hat den Konzern erfaßt."Wissensintensive Produkte und Dienstleistungen versprechen Wachstum", begründet von Pierer diese Stoßrichtung in Innovation und Dienst.Bahnbrechende Erfindungen wie der erste Zeigertelegraph aus der Gründerzeit des Hauses Siemens sind blanke Historie.Und auch die Tatsache, daß 1924 die erste Ampel Deutschlands auf dem Potsdamer Platz ein Siemens-Produkt war, ist längst trockener Lorbeer.Chips und Computernetze, Telefone und Kraftwerke bestimmen heute das Bild, Software und Dienstleistungen sind kommende Merkmale.Fast zwei Drittel aller Produkte sind heute jünger als fünf Jahre.Jährlich kommen 5000 Erfindungen dazu. Dennoch steht am 12.Oktober wohl keine ausgesprochene Jubelfeier ins Haus.Dafür sorgen zum einen die Personalpläne, die demnächst auch in den Führungsgremien vom Vorstand - mit Ausnahme von Pierers - bis zum Aufsichtsrat Änderungen bringen werden.Auch Atomkraftgegner dürften die Gunst der Stunde nutzen und sich Siemens-kritisch zu Wort melden.Daneben wird der Konzern nun zunehmend mit seinen Aktivitäten währen der Nazi-Zeit konfrontiert.1944 beschäftigte Siemens rund 50 000 Zwangsarbeiter, deren Überlebende heute Entschädigung fordern.Siemens lehnt das wie die gesamte deutsche Industrie ab.Trotz dieser Schatten sind die Siemens AG, ihre Beschäftigten und 600 000 Aktionäre auf einem erfolgversprechenden Weg ins 21.Jahrhundert.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false