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Wirtschaft: Frankreich drückt sich vor Reformen

Schon zum dritten Mal wird der Stabilitätspakt verletzt, aber Premier Raffarin versucht sich durchzuwurschteln

Paris. Dem französischen Premierminister Jean-Pierre Raffarin steht eine unangenehme Woche bevor: An diesem Dienstag werden die Krankenkassen für das Jahr 2003 ein Defizit von elf Milliarden Euro veröffentlichen, am Donnerstag muss er seinen Kabinettskollegen einen desaströsen Haushalt 2004 vorstellen. Klar ist: Die Neuverschuldung wird im kommenden Jahr weit über den von Brüssel erlaubten Grenzen liegen.Experten rechnen damit, dass das Defizit wie schon in diesem Jahr bei vier Prozent liegen könnte. Auch für die Jahre danach ist keine deutliche Besserung in Sicht.

„Ohne eine grundlegende Reform der Sozialsysteme wird Frankreich die Regeln des Stabilitätspakts vor 2006 nicht einhalten können“, sagte Philippe Dessertine, Professor an der Universität Paris-Nanterre, dem Tagesspiegel. Die Aussichten für tiefgreifende Strukturreformen sind jedoch schlecht: Zwar hat Raffarin in diesem Jahr – unter heftigen Protesten der Gewerkschaften – eine Rentenreform auf den Weg gebracht. Das Gesundheitssystem wurde aber bisher nicht angetastet. Und das, obwohl der Chef der gesetzlichen Krankenversicherung CNAM, Jean-Marie Spaeth, für 2004 ein erneutes Defizit von acht bis neun Milliarden Euro prognostiziert. „Frühestens Mitte 2005 wird es neue Gesetze geben“, sagte Spaeth dem Tagesspiegel. „Es ist unrealistisch, dass Raffarin seinen Wählern in den nächsten Jahren harte Einschnitte zumuten wird“, meint auch Jean-Pierre Fitoussi, Direktor des Pariser Wirtschaftsforschungsinstituts OFCE.

Raffarin befürchtet, dass das öffentliche Leben bei weiteren unangenehmen Einschnitten erneut zum Stillstand kommt. In Frankreich gibt es eine Kultur der sozialen Unruhe. Sobald die Gewerkschaften mit dem Regierungskurs nicht einverstanden sind, schicken sie ihre Mitglieder auf die Straße. Im Jahr 1995 legten Massenstreiks Frankreich lahm, als der damalige Premier Alain Juppé gleichzeitig eine Renten- und Gesundheitsreform angehen wollten. Anderthalb Jahre später wurde Juppé abgewählt.

Enormer Reformdruck

Dabei steht Frankreich genau wie Deutschland unter enormem Reformdruck: Die Kosten der Sozialsysteme explodieren, die Bevölkerung altert, und die Zahl der Beitragszahler sinkt. Im Jahr 2004 wird das Land zum dritten Mal in Folge den Stabilitätspakt verletzen, wie Berlin auch. Die jährliche Neuverschuldung wird weit über den erlaubten drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen. Die EU-Kommission will nur dann keine Sanktionen in Gang setzen, wenn beide Länder ernsthafte Strukturreformen angehen.

Am 3. Oktober muss Raffarin mit seinen Haushaltsplänen nach Brüssel reisen und hoffen, dass er den europäischen Währungskommissar Pedro Solbes davon überzeugen kann, dass er Reformen anpacken will. Auf Frankreich ist man in Brüssel derzeit nicht gut zu sprechen, nachdem Raffarin die EU-Kommission in der vergangenen Woche übel beschimpft hatte. Mehrmals hatte er betont, dass er die Regeln aus Brüssel für nicht beachtenswert halte. Nach massivem Druck aus Brüssel ruderte er etwas zurück und versprach seinen europäischen Kollegen, schon 2005 wieder unter die Drei-Prozent-Grenze zu gelangen.

Was Raffarin der Kommission Anfang Oktober in punkto Strukturreformen vorschlagen wird, ist unklar. Klar ist nur, dass er nächste Woche zusammen mit dem Haushalt Notmaßnahmen vorstellen will, die wenigstens einige Haushaltslöcher stopfen sollen.

In der Diskussion ist eine Kürzung der Leistungen für Langzeitarbeitslose sowie eine Erhöhung der Mineralölsteuer um 2,5 Cent pro Liter, die bis zu einer Milliarde Euro bringen soll. Die Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalte sollen außerdem von derzeit gut zehn auf etwa zwölf Euro am Tag steigen. Selbst eine Erhöhung der Weinsteuer wurde in der vergangenen Woche diskutiert – ein Tabubruch im Weinland Frankreich. Die Regierung beeilte sich dann auch, das Ganze abzublasen. „Diese Maßnahmen werden die Defizite jedenfalls kaum ausgleichen“, sagt Wirtschaftsexperte Dessertine.

Mit den Steuererhöhungen wendet sich die Raffarin-Regierung zudem von ihrem bisherigen Kurs ab: Schließlich hatte Raffarin eine Senkung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie von 19,6 auf 5,5 Prozent versprochen. Kostenpunkt: drei bis vier Milliarden Euro. Auch die Einkommensteuer sollte um drei Prozentpunkte sinken. Insgesamt erhofft sich die Regierung Einsparungen in Höhe von fünf bis sechs Milliarden Euro. Ein Schlingerkurs, den die Opposition scharf verurteilt.

Neue Kredite statt Schuldenabbau

Aber statt Einsparungen zu präsentieren, schlossen der französische Premierminister Raffarin und Bundeskanzler Gerhard Schröder am Donnerstag einen Wachstumspakt für Europa ab. Durch Investitionen in Infrastruktur- und Forschungsprojekte sollen Arbeitsplätze entstehen. Die Gelder sollen teilweise privat, teilweise aus Krediten der Europäischen Investitionsbank fließen.

Aber auch die Staatshaushalte könnten neu belastet werden: In französischen Medien wurde die Zahl von drei Milliarden Euro für Frankreich genannt. Der lockere Umgang mit dem europäischen Stabilitätspakt und die zögerliche Haltung gegenüber grundlegenden Reformen ist jedoch selbst in der Regierungskoalition umstritten. „Staatsausgaben über Schulden zu finanzieren, lähmt die Wirtschaft“, sagte der Präsident der konservativen UDF, Francois Bayrouin, in der vergangenen Woche in einem Interview mit der französischen Tageszeitung „Libération“.

Wer die gemeinsamen Regeln missachte, schade dem gesamten europäischen Wirtschaftsraum. Der Experte Dessertine stimmt ihm zu: „Wenn wir so weitermachen“, sagt Dessertine“, „gefährden wir die Zukunft des Euro.“

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