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© AFP

Frankreich: Radikal aus Verzweiflung

Mit Geiselnahmen von Managern kämpfen französische Arbeitnehmer um ihre Jobs – die Regierung fürchtet eine soziale Explosion.

Paris - In Zeiten der Krise tun Frankreichs Unternehmenschefs gut daran, Zahnbürste und Rasierzeug mit ins Büro zu nehmen. Es könnte ihnen passieren, dass sie dort über Nacht von streikenden Beschäftigten festgehalten werden. Vier Führungskräfte des US-Baumaschinenherstellers Caterpillar in Grenoble mussten vergangene Woche diese Spezialität französischer Arbeitskämpfe erdulden. Als Reaktion auf den geplanten Abbau von Arbeitsplätzen hatten aufgebrachte Beschäftigte des Unternehmens die vier in ihren Büros eingesperrt, um neue Verhandlungen über einen Sozialplan zu erzwingen.

Ähnlich erging es Francois-Henri Pinault, dem Patron des Luxusgüter- und Handelskonzerns PPR, zu dem unter anderem das Kaufhaus Printemps, das Modehaus Gucci und der deutsche Sportartikelhersteller Puma gehören. Als er im Taxi von einer Konferenz in Paris fortfahren wollte, wurde er von Mitarbeitern seiner Gruppe aus Wut über angekündigte Stellenstreichungen bei der Kulturkaufhauskette Fnac und dem Einrichtungshaus Conforama in dem Fahrzeug blockiert und als „dreckiger Schuft“ beschimpft.

Gewalt gegen Unternehmensleiter ist bei Arbeitskämpfen in Frankreich nichts Neues. Sie sind ein Relikt des einstigen sogenannten Anarcho-Syndikalismus, einer auf Autonomie bedachten Arbeiterbewegung, die vor über hundert Jahren aus Misstrauen gegenüber den weltanschaulich ausgerichteten Gewerkschaften entstand. Besonders virulent war diese Bewegung während der Zeit der Volksfront vor dem Zweiten Weltkrieg und ein weiteres Mal im Zusammenhang mit den Mai-Unruhen von 1968.

In der aktuellen Krise kommt es seit kurzem immer wieder zum Einsatz von Gewalt als Mittel im Arbeitskampf. Mit einem Unterschied zu früher freilich: Während es in den Kämpfen vor über 30 Jahren offensiv um die Eroberung neuer Arbeitnehmerrechte im Betrieb ging, hat die heutige Radikalisierung sozialer Auseinandersetzung einen defensiven Charakter, wie der Pariser Soziologe Jean-Michel Debis unterstreicht. Ihr Ziel ist die Erhaltung bedrohter Arbeitsplätze.

Rund 80 000 zusätzliche Arbeitslose registrierte die Regierung im Februar. Im Januar waren bereits 90 000 hinzugekommen. Ende 2009 werden es voraussichtlich über drei Millionen sein, unter ihnen eine große Zahl von Jugendlichen, die keine Arbeit haben.

Die Radikalisierung stellt für verzweifelte Arbeitnehmer offensichtlich die letzte Hoffnung dar, wie die Zeitung „Libération“ schreibt, sich wenigstens den Verlust ihrer Jobs teuer bezahlen zu lassen. So kam der Chef der zur Schließung bestimmten Frankreich-Filiale des japanischen Elektronikkonzerns Sony bei Bordeaux Mitte März erst aus seiner Geiselhaft frei, nachdem der Konzern höhere Abfindungen zugesagt hatte. Auf die gleiche Weise erzwangen die Beschäftigten des US-Konzerns 3M bei Orléans neue Verhandlungen über ihr Ausscheiden. Die Gewerkschaften hatten das nicht zu erreichen vermocht.

Viele französische Arbeitnehmer fühlen sich zudem von ihren Unternehmen betrogen und von der Politik im Stich gelassen. Beim Reifenhersteller Continental in Clairvoix bei Paris war vor einem Jahr eine Vereinbarung getroffen worden, die der Belegschaft im Gegenzug zur Rückkehr zur 39-Stunden-Woche den Erhalt ihrer Jobs garantierte. Als jetzt gleichwohl die Schließung des Werks mit 1120 Arbeitsplätzen angekündigt wurde, inszenierten die empörten Arbeiter einen symbolischen Schauprozess, in dem sie eine Puppe mit dem Bild ihres Chefs an den Galgen brachten.

Auch Staatspräsident Nicolas Sarkozy bekommt die Wut enttäuschter Arbeitnehmer zu spüren. Wenn er in die Provinz reist, werden potenzielle Protestierer von überdimensionierten Polizeiaufgeboten weiträumig auf Distanz gehalten. Im Werk des lothringischen Stahlherstellers Arcelor-Mittal, der trotz eines Rekordgewinns weiter Stellen streicht, errichtete die Belegschaft dem Staatschef eine Stele zur Erinnerung an sein vergessenes Versprechen, ihre Arbeitsplätze zu erhalten.

So machtlos wie die Gewerkschaften, so hilflos ist die Regierung in Paris. „Wir können Schließungen nicht verhindern“, sagte Sarkozys Berater Henri Guaino am Freitag in einem Fernsehinterview, in dem er die „Gefahr einer sozialen Revolte“ einräumte. Der Staat könne zwar hier und da helfen, aber alles zu retten, sei unmöglich. „Wir befinden uns in einer schweren Krise, die das Risiko großer gewalttätiger Aufwallungen in sich birgt.“ Hans-Hagen Bremer

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