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Frust der Fahrgäste: Die Bahn und ihre Pünktlichkeit

Die Deutsche Bahn hat ein Problem. Zu viele Menschen verzweifeln an ihren Gleisen. Weil die Züge zu spät kommen. Insgesamt fallen jede Woche 200 Züge ganz aus.

Schladming war schön. Im Gleitschirm über dem Ennstal zu fliegen, unter blauem Himmel, mit Sicht auf den Dachstein. Axel Linde war zufrieden, als er nach ein paar Tagen Urlaub sein Gepäck in den Eurocity wuchtete, zweite Klasse, Großraumwagen. Zweimal würde er umsteigen müssen. Für die Fahrt nach Berlin hatte sich Linde, von Beruf Architekt, ein dickes Buch mitgenommen. Das reicht für die zehn Stunden, dachte der 43-Jährige.

In Nürnberg schwante ihm, dass er sich verschätzt hatte. Bis hier war alles nach Plan verlaufen. Linde wartete auf den ICE nach Berlin. Aber der kam nicht. 20 Minuten Verspätung zeigte die Abfahrtstafel, daraus wurden 40 Minuten, dann 60. Warum, das behielten die Bahnhofsleute für sich. Irgendwann doch eine Durchsage: Ein Gewitter habe den Zug gestoppt. „Wir bitten um Entschuldigung“, quäkte es aus dem Lautsprecher.

Nach drei Stunden ging es weiter. Das Zugpersonal hatte die Äste auf eigene Faust vom Gleis geräumt. Tief in der Nacht erreichte der ICE die Hauptstadt. „Ich gehöre nicht zu den Nörglern“, sagt Linde. „Aber das war zum Abgewöhnen.“

Die Deutsche Bahn hat ein Problem. Es gibt zu viele Geschichten über sie, in denen Menschen wie Axel Linde vorkommen. Eine weitere erzählt Peter Cornelius, 61 Jahre alt, der gerne Zug fährt, auch wenn ein Flugzeug nur anderthalb Stunden bis nach Brüssel gebraucht hätte. Mit der Bahn sollten es laut Fahrplan acht sein. Aber schon auf der Strecke von Berlin nach Hannover hatte sein Zug zweieinhalb Stunden Verspätung, weil eine ICE-Strecke überflutet war. In Hamm musste er außerplanmäßig umsteigen, ebenso in Köln, in Aachen wieder – ein ICE-Computer war abgestürzt. In Lüttich setzte der Schaffner Cornelius vor die Tür, das Ticket sei nicht gültig. Brüssel erreichte er sechs Stunden später als geplant.

Bei der Bahn sind Kunden besonders kritisch

Zwei Erlebnisse von vielen, aber die Ursache ist immer dieselbe: Die Bahn kommt zu spät, man kann sich nicht mehr auf sie verlassen. Immer wieder, vor allem im Fernverkehr. Und jetzt, zur Herbstferienzeit, wird es vermutlich wieder tausende Reisende treffen. Es scheint, als stünde die Bahn mit ihrem eigenen Fahrplan auf Kriegsfuß. Auch andere Verkehrsmittel bedeuten oft Verspätung. Mit dem Auto steht man im Stau, ein Flugzeug fällt aus.

Kommt die Bahn zu spät, fällt das Urteil gnadenlos aus. Der Zug ist dann auch noch verdreckt gewesen, der Schaffner unfreundlich, der Kaffee im Bordbistro ungenießbar. Mal sind es nur zehn Minuten, mal gleich 840 Minuten, wie vor einigen Wochen Euronachtzug 452 von Paris nach Moskau. Und die Bahner wussten noch nicht einmal, warum.

Sie hätten bloß Erik Hinke zu fragen brauchen. Hinke, 48, steht in Pankow in einem abgedunkelten Großraumbüro und starrt auf eine Wand aus Flachbildschirmen wie an der Börse. Darüber ziehen sich rote und blaue Linien – die roten stehen für Personenzüge, die blauen für Güterzüge. Jeder davon, der sich in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auch nur einen Meter vom Fleck bewegt, hinterlässt Spuren. In der Betriebszentrale Ost überwachen 350 Menschen den Bahnverkehr, Tag und Nacht. Hinke ist ihr Chef, er muss dafür sorgen, dass der Fahrplan eingehalten wird.

Pünktlichkeit ist ein Puzzle. Alles hängt zusammen

Heute, an einem Spätsommertag, klappt das. Zu 90,2 Prozent fahren ICs und ICEs pünktlich. „Ein richtig guter Wert“, freut sich Hinke. Er weiß, dass sich das jede Sekunde ändern kann. Spielende Kinder am Gleis, Wild auf der Strecke, ein überhitzter ICE-Triebkopf, eine klemmende Weiche, Diebe, die wertvolle Kupferkabel an der Strecke stehlen und Signale lahmlegen, Selbstmörder. „Irgendwas ist immer.“ Das hat Hinke in 32 Jahren bei der Eisenbahn gelernt.

Sein Problem ist: 90,2 Prozent Pünktlichkeit sind nicht genug. Es sind zu viele Geschichten zusammengekommen, in denen eine kleine Ursache große Unannehmlichkeiten nach sich zieht. In denen die Bahn dem Vertrauen nicht gerecht wird, das man in sie setzt. Zwar fahren vier von fünf Fernzügen pünktlich, so sagt es die Statistik. Aber die Kunden haben immer das Gefühl, im fünften Zug zu sitzen, dem unpünktlichen. Es geht um Kontrolle, sagt etwa Stephan Grünewald, Psychologe, Therapeut und Marktforscher. „Wer in die Bahn steigt, verliert ein Stück Autonomie. Diese Ohnmacht zu akzeptieren ist nicht leicht.“ Vor allem, wenn man sich nicht nur ausgeliefert fühle, sondern auch unwissend gelassen werde.

Hinkes ist für die Bahn im Nordosten Deutschlands zuständig, an einem Tag sind dort etwa 4000 Züge unterwegs. Im gesamten Land sind es 39 000. Darunter ist der ICE mit 250 Stundenkilometern ebenso wie eine historische Dampflok oder der 5500 Tonnen schwere Erzzug für das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt. Nicht alle Züge gehören zur Deutschen Bahn, aber alle wollen einen Platz auf den Schienen. Das Netz ist so lang, dass es einmal um die Erde reichen würde. Kommt nur ein Zug aus dem Takt, bricht das Chaos los.

Zwei Minuten sind in Japan eine Katastrophe

In Hinkes Zentrale kündigt es sich als sonorer Warnton an. Eine Lok ist auf der Strecke stehen geblieben, der Triebfahrzeugführer hat per Notruf einen Oberleitungsschaden gemeldet. „Das war es dann wohl mit den 90 Prozent“, flucht Hinke, seine Miene verfinstert sich. Ein Ausfall ausgerechnet auf der Umleitungsstrecke, die seit dem Elbe-Hochwasser den Verkehr zwischen Berlin und Hannover aufrechterhält. Jeder vierte bundesweite Fernzug rauscht normalerweise über die Haupttrasse. Wenn jetzt auch noch die Umleitung dicht ist, bricht alles zusammen.

Pünktlichkeit ist ein Puzzle, bei dem alles mit allem zusammenhängt. „Zupft man in Flensburg, dann wackelt es in Passau“, lautet ein geflügeltes Wort unter Fahrdienstleitern und Zugdisponenten. In Japan verliert ein Lokführer sein Gesicht, wenn sein Zug nur zwei Minuten später eintrifft als im Fahrplan vorgesehen. In Deutschland hat man sich für einen anderen Umgang entschieden. Die Bahn definiert Verspätung erst bei einem Rückstand von 5 Minuten und 59 Sekunden auf die planmäßige Zeit.

Heute haben sie Glück. Kurz nach dem Notruf stellt sich heraus, dass der Lokführer nur einen Fehler gemacht hat. Hätte es wirklich eine Störung an der Oberleitung gegeben, Hinke hätte alle Signale um den havarierten Zug herum auf Rot stellen lassen müssen. Hätte Ersatzverkehr organisieren, andere Züge umleiten müssen. Hätte einen Bautrupp losschicken müssen, Stunden hätte das gedauert. „Störung im Betriebsablauf“ hätte auf den Abfahrttafeln in den Bahnhöfen gestanden, obwohl niemand weiß, was das eigentlich bedeutet.

{ehn Grad, kein Wind - perfektes Bahnwetter. Aber wie oft gibt es das?

Im Moment gibt es bei der Bahn oft mehr Störung als Normalität. „Das ist ein Jahr zum Abgewöhnen“, stöhnt ein Vorstand. Erst das Hochwasser, dann kam noch Mainz hinzu. In einem Stellwerk waren ein paar Mitarbeiter krank geworden, ein paar andere waren in Urlaub gefahren. Plötzlich reichte das Personal nicht mehr, Dutzende Züge konnten den Hauptbahnhof nicht anfahren.

Dabei fallen jede Woche bundesweit 200 Züge ganz aus, erzählt ein Manager, meist aus technischen Gründen. Das ist verheerend für die Bahn, deshalb taucht es in keiner offiziellen Statistik auf. 200 Züge, das sind mindestens 4000 Reisende, die mit großer Verspätung ans Ziel kommen. Und das sind schnell ein paar zehntausend Geschichten von der Sorte, in denen es auch um Täuschung geht.

„Alle reden vom Wetter, wir nicht“, das Werbeplakat der Bahn aus den 60ern, hängt auch an einer Pinnwand in Pankow. Tatsächlich ist das Wetter der Feind der Bahn. Zehn Grad und Flaute, so haben es Erik Hinke und seine Leute in der Betriebszentrale am liebsten. Da gibt es weder vereiste Oberleitungen oder zugeschneite Weichen noch in der Mittagshitze verbogene Schienen und kollabierende Klimaanlagen. Aber solche Bedingungen herrschen in Deutschland nur ein paar Tage im Jahr, der Fahrplan gilt an jedem Tag. Züge, Gleise und Schienen – vieles ist veraltet. Das System allwettertauglich zu machen, wäre technisch zwar möglich, aber wohl kaum zu bezahlen.

Außerdem hat die Bahn nicht genügend Züge. Zwar verfügt der Betrieb über 253 schnittige ICEs und noch einmal 270 IC-Züge. Doch das reicht nicht. Vor allem die schnellen, aber anfälligen ICEs gelten als schwierig. Spätestens, nachdem im August 2008 im Kölner Hauptbahnhof die Achse eines ICE der neuesten Generation brach.

Gestiegene Nachfrage, reduziertes Angebot

Seitdem müssen alle Züge dieses Typs zwölfmal häufiger zur Kontrolle in die Werkstatt als geplant. Im täglichen Betrieb fehlen der Bahn deshalb zwölf Züge, an manchen Wintertagen sind es doppelt so viele. Neue, stabilere Achsen sind zwar längst produziert, 1200 Stück lagern in einer Halle irgendwo in Westdeutschland. Doch sie dürfen nicht eingebaut werden, das Eisenbahnbundesamt hat Bedenken. Die Bahnfahrer müssen deshalb noch enger zusammenrücken. Während die Nachfrage im Fernverkehr seit 2006 um 20 Prozent gestiegen ist, ging das Sitzplatzangebot um vier Prozent zurück.

Was das bedeutet, ist oft frühmorgens an den Hauptbahnhöfen von Berlin oder Hamburg zu erleben. „Heute in umgekehrter Wagenreihung“ warnt die Durchsage. Das bedeutet: Die Nacht hat nicht gereicht, um den Zug zu reinigen, zu warten und dann auch noch zu wenden. Das ist nötig, wenn der Zug am Tag zuvor umgeleitet wurde oder einen Kopfbahnhof nicht anfahren konnte. Dann ist er plötzlich verkehrt herum unterwegs. Das Einsteigen dauert dann nicht vier Minuten wie geplant, sondern acht oder neun. Und schon ist der Zug zu spät dran, ehe er überhaupt auf die Strecke geht.

Darunter leidet besonders, wer in Hannover, Mannheim, Köln oder Frankfurt am Main ein- oder umsteigen will. Oft erreichen Passagiere in diesen Knotenbahnhöfen nur mit Glück ihren Anschlusszug. Der Verkehrsclub Deutschland ermittelte in einer Stichprobe, dass es nicht einmal bei jedem zweiten Reisenden in der Hauptverkehrszeit mit dem Umsteigen klappt. Das liegt auch daran, dass viele Regionalzüge keine Lust haben, auf verspätete ICEs zu warten. Fahren sie nicht auf die Minute los, müssen sie Strafen an ihre Auftraggeber, die Verkehrsverbünde, zahlen.

Grube geht zu den Leuten - das ist ungewöhnlich für einen Topmanager

Rüdiger Grube, der Bahnchef, schlägt sich seit vier Jahren herum mit der geänderten Wagenreihung, den Achsen, dem Hochwasser, den Kabeldieben. Die Zeit als Bahn-Chef hat Spuren hinterlassen im Gesicht des 62-Jährigen. Aber er hat noch nicht aufgegeben. Grube geht zu den Leuten und hört sich ihr Genörgel an. Das ist ungewöhnlich für einen Topmanager mit 300 000 Beschäftigten. Er würde ja gern neue Züge kaufen, sagt er an einem Septemberabend im Berliner Hauptbahnhof. Schließlich gelte es, das „Brot- und Buttergeschäft“ in Ordnung zu bringen. Doch: „Wenn Sie heute einen Zug bestellen, dauert es fünf Jahre, bis er geliefert ist.“

Das stimmt nicht ganz, es werden wohl fast sechs Jahre werden. Jedenfalls bei Siemens. Ende 2008 hat der Elektrokonzern den Zuschlag für 16 ICE-Züge bekommen, Stückpreis 33 Millionen Euro. 2011 wollte man liefern – tatsächlich sind die ersten Züge nun für April 2014 versprochen. Siemens bekam die Software des 320 Stundenkilometer schnellen Geschosses nicht in den Griff. Löst der Lokführer eine Vollbremsung aus, reagieren die Bremsen erst 1,6 Sekunden später. Zu lange, befanden die Zulassungsbehörden. Auch Bombardier kann Liefertermine für georderte Doppelstockintercitys nicht einhalten. Die vielen Verspätungsminuten, sie gehen auch auf das Konto der Industrie.

Doch das Bild der Bahn wird vor allem von ihr selbst geprägt. Die Bahn-Manager haben ein Leitbild entwickelt, eine Art Glaubensbekenntnis. Es füllt ein Blatt Papier. Von „durchgängigen Mobilitäts- und Logistikketten“ ist die Rede, „erstklassig“ sollen die sein, „mit hoher Produktqualität“. Das Wort „Pünktlichkeit“ taucht nicht auf. Stattdessen werden Grube und seine Leute nun schon wieder die Preise erhöhen. Mitte Dezember ist es so weit.

Das System ist unterfinanziert

Grube muss Gewinn machen. Seit 1994 ist die Bahn eine Aktiengesellschaft. Sie gehört zwar dem Staat, tut aber so, als würde sie an der Börse gehandelt. Einen Rekordgewinn hat Grube zuletzt präsentiert, 1,5 Milliarden Euro. „Kein Eisenbahnunternehmen in Europa hat sich so gemausert wie die Bahn“, sagt er stolz. Dabei weiß auch er, wie es um die Pünktlichkeit steht. In seinem Büro im 25. Stock des Bahn-Towers kann er auf einem Monitor ablesen, wer gerade gewinnt, seine Züge oder die Uhr.

Hans-Werner Franz macht Grubes Rekordstreben misstrauisch. „Der Vorstand erweckt ständig den Eindruck, die Bahn sei auf gutem Wege. Das stimmt aber nicht“, sagt er. Franz leitet den Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg, der mit Geld des Bundes Nahverkehrszüge für die Hauptstadtregion bestellt. Er meint, dass das marode Schienennetz der größte Feind der Pünktlichkeit sei. „Das Gesamtsystem ist unterfinanziert. Die Bahn fährt auf Verschleiß und investiert zu wenig. Kurzfristig bringt das höhere Gewinne, aber langfristig enorme Probleme.“ Zum Beweis legt Franz Zahlen vor, die die Bahn selbst veröffentlicht hat. Das Durchschnittsalter der Weichen sei zwischen 2005 und 2011 von 16,5 auf 19,7 Jahre gestiegen. Bei Gleisen und Brücken verhalte es sich ähnlich. Zugleich wird der Verkehr immer dichter.

Am besten lässt sich die Misere an der Strecke Hamburg–Berlin ablesen. 2004 wurde sie für schnelle Züge ausgebaut, die schafften die Strecke in 90 Minuten. Heute dauert die schnellste Verbindung 97 Minuten, die meisten ICEs brauchen 100 und mehr. Schuld ist vor allem der überlastete Hamburger Hauptbahnhof, vor dem sich die Züge oft stauen. Dann überschlagen sich die Verspätungsminuten nur so. Ändern ließe sich das nur mit viel Geld. Der Staat müsste es überweisen, die Bahn muss ja Gewinn machen.

Die Eisenbahn, einst Ikone des industriellen Fortschritts, wird so zum Dieb der Zeit. Eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden – was ließe sich währenddessen alles Sinnvolles anfangen? Doch die Zeit zerrinnt nutzlos auf einem zugigen Bahnsteig. Und jetzt steht wieder der Winter vor der Tür.

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