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Wirtschaft: Geb. 1904

Rosemarie Reichwein

Vom Tode ihres Mannes erfährt sie vom Gefängnispförtner in Plötzensee. Sie hat ihn mit Zigaretten bestochen. In einem der letzten Briefe hat ihr Mann geschrieben: „Ich weiß, Du machst es gut.“

Gewiss, sie hätten abstürzen können, Anfang der dreißiger Jahre, in diesem zerbrechlichen Fluggerät aus Spanholz und Seide. Damals ging es durch Blitz und Donner nach Berlin. Bis dahin war das Leben sehr schön gewesen. Fast unbeschwert. Leichter als Luft. Vieles, was danach kam, wurde maßlos schwer. Ans Fliegen dachte bald niemand mehr. Aber darf man das Leben aufrechnen, in leichte und schwere Zeiten? Darf man mal das Schicksal fragen: Sag mal, Schicksal, was wäre denn gewesen, wenn…?

Nein, das trübt den Blick nach vorn. Rosemarie Reichwein, hat sich nie gefragt, was wäre, wenn ihr Mann Adolf Reichwein, der Hochschullehrer und Reformpädagoge, nicht verraten worden wäre. Wenn er sich nicht dem Widerstand gegen Hitler angeschlossen hätte. Sie stand zu ihrem Mann, unterstützte ihn, blieb ihm treu auch nach seinem Tod, bis zuletzt.

Das Flugzeug von Adolf, den alle nach der englischen Aussprache Edolf nannten, war eine „Klemm“, ein Zweisitzer, in dem der Steuermann hinten saß. So konnte Rosemarie, genannt Romai, dem Sturm und den Blitzen entgegenlachen, die Achterbahnfahrt durch die Wolken aus der ersten Reihe genießen, während Adolf schwer zu tun hatte, die Kontrolle der Maschine nicht zu verlieren. Sie landeten schließlich sicher in Tempelhof, und Adolf strahlte, weil Romai strahlte. Sie hatte die Mutprobe bestanden. Fortan galten beide als wesensverwandt. Auf den Fotos von früher sehen sie aus wie Geschwister. Nur waren sie nicht gleich. Sein Leben spiegelte sich in ihrem, aber nicht umgekehrt.

Dann die Verlobung, ausgerechnet am 30. Januar 1933, dem Tag, als Hitler an die Macht kam. Die Heirat folgte im April. Das Hochzeitsfoto weist auf die künftige Rollenverteilung hin. Rosemarie lächelt schüchtern in die Kamera, schmiegt sich an ihn, legt die Hand auf seinen führenden Arm. Der Wildfang früherer Tage, das burschikose Mädchen mit den großen, fordernden Augen, das im Betragen allenfalls ein „Genügend“ bekam, die emanzipierte, berufstätige Frau erlag dem Charisma eines Menschen, den damals viele bewunderten. Er konnte von Abenteuern in fernen Länden berichten, vom Krieg, von Nachtflügen mit seiner „Klemm“, von politischen Diskussionen mit seinen Studenten. Viele Frauen hätte er haben können, sagte Rosemarie später. Er wählte sie. Und er bekam sie.

Nach der Hochzeitsreise hatte das unbeschwerte Leben ein Ende. Die Pädagogische Akademie in Halle, an der Adolf Professor war, wurde von den Nazis geschlossen. Reichwein entschied sich, in Tiefensee bei Eberswalde Dorfschullehrer zu werden. Für ihn eine neue Erfahrung. Für sie bedeutete Tiefensee Küche mit Kohleherd ohne Wasser und Ausguss. Adolf arbeitete tagsüber mit den Schulkindern, abends schrieb er oder es kamen politische Freunde vorbei. Unangemeldet. Darüber gab es dann Streit. Die ersten Kinder kamen, der Alltag wurde beschwerlicher und Romai wurde immer unglücklicher.

Endlich, 1939, gab Adolf das Exil in der Provinz auf und nahm eine Stelle im Berliner Volkskundemuseum an. Und er war überzeugt, dass man etwas unternehmen müsse gegen den Diktator und seine Verbrechen. Also war auch Romai davon überzeugt. Adolf war ein hervorragender Überzeuger. Und er sagte ihr früh, dass es gefährlich werden könne, aber er sei ja Beamter und so bliebe ihr wenigstens die Pension. Vernünftig solle der Mensch handeln, selbstlos und mutig. Das sagte er nicht nur so daher. Gefühle wie Angst, Sehnsucht oder Schwäche müssen zurückstehen. Da ist es besser, wenn man nicht zu viel darüber spricht, dachte sich Romai. Mit den Kindern schon gar nicht.

1943 werden die Reichweins in Berlin ausgebombt und kommen auf dem Gut von Helmuth James von Moltke in Schlesien unter. Dort trifft sich der „Kreisauer Kreis“. Während sich die Männer mit der Politik befassen, leben die Frauen und Kinder wie auf einer Enklave des Friedens. Dann wird Adolf verraten, verhaftet, und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft nach dem Krieg zerbricht mit jedem Tag ein Stückchen mehr. Vom Tode ihres Mannes erfährt Romai vom Pförtner im Gefängnis Plötzensee, nachdem sie ihn mit Zigaretten bestochen hat. „Ja, die gestern hier abgeliefert wurden, leben alle nicht mehr.“

In einem der letzten Briefe hatte Adolf geschrieben: „Ich weiß, Du machst es gut.“

Mit Hilfe der Moltkes und vieler anderer Freunde kommen Romai und die Kinder unbeschadet durch das Chaos des Kriegsendes. Romai arbeitet wieder als Krankengymnastin. Sie knüpft an das selbstständige Leben an, das sie vor der Heirat geführt hatte. Die Kinder gibt sie oft zu Freunden oder in ein Heim, um sich ihrer Arbeit widmen zu können. Besonders die Jüngste, Sabine, leidet unter den Trennungen. Auch als die Familie später wieder zusammen ist, im Haus der Großeltern in Wannsee, hat Romai wenig Zeit für die Kinder. „Warum streichelst du eigentlich immer nur die fremden Leute?“, fragt Sabine, als sie ihre Mutter beim Massieren eines Patienten beobachtet. Romai hat den Ehrgeiz, ihre Arbeit gut zu machen – wie Adolf es ihr aufgetragen hatte. Als sie ihre Praxis für spastisch gelähmte Kinder aufgibt, ist sie 83.

Danach rückt wieder das Erinnern in den Vordergrund, die Sorge um das Vermächtnis des Mannes. Romai verfolgt kritisch, wer sich in die Tradition der Widerstandskämpfer einzureihen versucht. Die Gelöbnisfeiern an der Gedenkstätte des 20. Juli lehnt sie ab. Adolf war schließlich Pazifist. Als Ministerpräsident Roland Koch ihr den hessischen Verdienstorden verleihen will, weist sie ihn ab. Kochs Charakter gefalle ihr nicht, sagt sie. Ebenso wenig der Zeitpunkt. „Mittags um zwei“ habe er ihr die Medaille umhängen wollen. Um diese Zeit hält ein anständiger Mensch seine Mittagsruhe.

Romai wurde sehr alt. Sie trieb viel Sport und machte ihre tägliche Gymnastik mit einem Kopfstand als Höhepunkt. Das ging so, bis ihr der Arzt den Kopfstand verbot. Romai wurde nicht krank, bevor sie starb. Der Tod habe sie geholt, so wie es früher üblich war, sagte der Arzt. Das Ausatmen wurde schwächer und Romai versank langsam in eine natürliche Bewusstlosigkeit.

Heute wird sie beerdigt, und mit ihr Adolf Reichwein, dem ein Begräbnis verwehrt geblieben war. Friedrich Schorlemmer, der die Grabrede hält, hatte Romai vor ein paar Jahren gefragt, ob er sie zusammen beerdigen soll. Sie war sehr gerührt von der Idee und willigte ein. Thomas Loy

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