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Wirtschaft: Geb. 1907

Gertrud Thomas

Die Enkel schenkten ihr einen Kassettenrekorder mit silbernem Stern auf der Aufnahmetaste und baten sie: „Babuschka, erzähl“.

Sie fiel ein wenig auf in der gediegenen Seniorenresidenz in Schmargendorf. Sie sammelte Unterschriften für Amnesty International, sie wählte die Grünen, das mochte ja noch angehen. Aber mit über 90 mit der Enkeltochter in die „Bar jeder Vernunft“ und ins „Cinema Paris“, zur Faschingsfeier als Nofrete oder bayerischer Seppl – da staunten die Leute. Ebenfalls ein Hingucker: ihr E-Mobil. Eine Art Golfcaddy, ihr „Ferrari“, knallrot mit Lenker, Blinker und Zündschlüssel.

Es ist gut, unterwegs zu sein. Zu Fuß, mit dem Zug, mit dem Geist. Ganz besonders mit dem Geist. Als sie 90 wurde, konnte sie ihre Beine nicht mehr so gut bewegen, irgendwann reichte der Stock nicht mehr, die Arthrose wurde zu schlimm, das E-Mobil ihr neues Fortbewegungsmittel. Doch ihr Geist, der war anders. Der erlahmte nicht eine Spur in den ganzen Jahren. Mit 60 hatte sie ihren Führerschein gemacht, war Auto gefahren bis zum 85. Geburtstag. Man musste sie ein wenig überreden, es sein zu lassen. Mit 86 war sie der unbestrittene Mittelpunkt des Konversationskreises im „Maison de France“, sie nannten sie „die russische Prinzessin“. In der Seniorenresidenz lud die 95-Jährige zu Lesungen ein, trug Texte von Klemperer und Zuckmayr vor, oder las aus einem Vortrag des Physikers Heisenberg, den sie dann auch fachkundig erläuterte.

Sie hat in ihrem Leben an vielen Orten gewohnt, in Dresden, Leipzig, Salzburg, Berlin, München, Köln, am Starnberger See. Und in Rostow am Don, einer Steppenstadt im Süden Russlands. Dort ist sie geboren und aufgewachsen, als Tochter des deutschen Leiters einer Wollexportfirma. Wenn ihre Tochter später mit Ohrenschmerzen zu ihr ins Bett kroch, oder wenn ihre Enkeltochter sie darum bat, erzählte sie von ihrer Kindheit. 3000 Kilometer südöstlich von Berlin. Sie holte ihre Erinnerungen hervor wie ein Schatzkästlein voller Edelsteine. Nicht dass sie in der Erinnerung oder für die Vergangenheit lebte. Aber alles Gelebte, Gelesene, Erfahrene war wertvoll für sie.

Sie erzählte von den Kosakenfrauen, die barfuß auf Flößen am Don standen und die Wolle wuschen, um sie an langen Drähten in den Steppenwind zum Trocknen zu hängen. Von dem prächtigen Haus mit Säulen im Kolonialstil, dem großen Garten mit Aprikosen und Akazien. Davon, wie im Winter Eisblöcke aus dem Don gebrochen und mit dem Pferdewagen für den Eiskeller herbeigezogen wurden, von der russischen Köchin, der französischen Gouvernante, den weihnachtlichen Lebkuchenpaketen aus Nürnberg, dem unvergesslichen Geruch von türkischem Honig, den fliegende Händler auf den Straßen von Rostow verkauften.

Es war das alte Europa, in dem sie aufwuchs. Das Europa der selbstverständlichen Kultur- und Handelsbeziehungen, das Europa, das mit dem Ersten Weltkrieg unterging. Sie lernte als Kind Deutsch, Russisch, Französisch, Englisch, das ergab sich so. Nationalität spielte keine große Rolle im bunten Rostow, in dem neben Russen auch Griechen, Türken, Tataren und ein paar deutsche Familien lebten – bis zur Revolution. 1920 musste die Familie nach Deutschland fliehen. Auch davon konnte Gertrud Thomas unzählige Geschichten erzählen: von der wochenlangen Zugfahrt ins Ungewisse, von dem Familienschmuck, der im Bauch der Puppe eingenäht war, oder wie das Abteil einmal Feuer fing, als der Samowar umkippte.

Ein Arsenal von Abenteuergeschichten, wie man es braucht, um über schwere Jahre hinwegzukommen. Wie die Zeiten des Zweiten Weltkriegs zum Beispiel oder die Nachkriegsjahre, als Gertrud Thomas ihre drei Kinder allein durchbringen musste, weil der Ehemann drei Jahre irgendwo in der sowjetischen Zone festsaß. Sie hatte ihn damals, in den dreißiger Jahren während des Geografiestudiums in Leipzig kennen gelernt und mit ihm den Gran Paradiso in den italienischen Alpen bestiegen. Dann bekam er eine leitende Stelle beim Deutschen Studentenwerk, keine unpolitische Arbeit in der Zeit des Nationalsozialismus, als sie die Universitäten umkrempelten. Gertrud Thomas war damals nur Mutter und Hausfrau. Doch später, wenn sie nachts nicht schlafen konnte, fragte sie sich oft: Warum haben wir damals geschwiegen? Nachts schrieb sie auch ihre Erinnerungen auf. Den ersten Teil ihrer Memoiren, eine blaue Mappe mit etwa 60 Druckseiten, schenkte sie der Tochter zum 50. Geburtstag. Weitere Mappen folgten. Als es später mit dem Schreiben zu mühsam wurde, schenkten ihr die Enkel einen Kassettenrekorder, klebten einen silbernen Stern auf die Aufnahmetaste und baten sie: „Babuschka, erzähl“. Und sie legte los, immer in druckreifen Sätzen.

Nur manchmal, wenn sie bei der Friseurin war zum Beispiel, wurde der Redefluss von einer kleinen Ohnmacht unterbrochen. In letzter Zeit kam das häufiger vor, doch das störte die beiden nicht, die Friseurin rollte weiter die Locken ein und wartete auf die Fortsetzung der Geschichte. Es wäre eigentlich nicht schlimm, von so einer Ohnmacht eines Tages nicht mehr aufzuwachen, sagte Gertrud Thomas zu ihrer Familie. Ich habe genug gelebt und genug erzählt. So war sie längst vertraut mit dem Tod, bevor er eines Tages wirklich kam. Kirsten Wenzel

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