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Wirtschaft: Geb. 1909

Mimi Knepel

Woran erkennt man den Lebenskünstler? Daran, dass er seine Ansprüche an die Lage anzupassen versteht.

Sie hatte schon ein Haus gebaut, zwei Kinder großgezogen, zwei Weltkriege überlebt. Da bekam sie die Gelbsucht. Anfang der sechziger Jahre passierte es, ihr Mann lag im Nebenzimmer des Lynar-Krankenhauses, und rief rüber: „Ich komm hier nicht mehr lebend raus.“ Er hatte dieselbe Krankheit wie sie, die Ärzten machten beiden kaum noch Hoffnung. Ein ganzes Jahr lagen die Eheleute auf der Isolierstation; Mimi freundete sich mit den Ärzten an, bat um eine Aufgabe und sortierte Diakästen für medizinische Vorträge. „Wir schaffen das schon“ rief sie ihrem Mann über den Gang zu. Dann starb er aber doch. Als er beerdigt wurde, war sie nicht dabei, sie durfte ihr Krankenzimmer nicht verlassen. Mimi wurde wieder gesund und beschloss, das Leben trotz der Trauer in ihrem Herzen von nun an umso mehr zu lieben.

„Die Ansprüche an die augenblickliche Lage anpassen“, predigte sie später ihren Kindern und Enkelkindern, das sei das A und O. Daran erkennt man den Lebenskünstler. Flexibel sein, elastisch bleiben, so wie ein guter Skifahrer in den Knien federt: Das hatte sie schon als Kind auf den Brettern gelernt. Das Leben bringt nun mal gute und schlechte Zeiten, sanfte Abfahrten im Pulverschnee und tückische Buckelpisten. Wer nicht beide zu meistern weiß, zerbricht daran.

Sie hatte ihren Mann, den Musiklehrer, mit 14 bei den Klavierstunden kennen gelernt, war viel später mit ihm und den Schülern des Freiherr-von-Stein-Gymnasiums vor den Bomben aus Berlin geflohen. Die ganze Schule wurde damals ins besetzte Dänemark evakuiert. Mimi musste in einer dänischen Jugendherberge Ersatzmama spielen, für 90 Heranwachsende Mittag kochen, Flicken auf Hosenknie nähen. Und dann bis 1947 im Internierungslager sitzen: Dänische Soldaten hatten nach Kriegsende einen Stacheldraht um die Jugendherberge gezogen. Bange, ungewisse Zeiten waren das, in denen ihr Vater ohne Nachricht zu Hause in Spandau saß und hörte, dass ein Schiff mit Schulkindern in der Ostsee untergegangen war. Als sie dann wohlbehalten zurück kam, war der Vater tot und es hieß weiter: überleben. Sie war geübt darin, hielt während der Blockadezeit 50 Hühner, zwei Ziegen und 25 Hasen in ihrem Garten. Mit den Eiern bezahlten sie den Tischler, als ein neues Fenster nötig war. Und in der Nacht schliefen Mimi und ihr Mann mit der Axt neben dem Bett. Einbrecher hätten sie schon in die Flucht geschlagen.

Als Witwe wollte sie ihre Freiheit genießen, den Tag so verbringen, wie es ihr passte. Sich noch einmal auf einen Neuen einstellen? Für ihren Mann hatte sie gern Rücksicht genommen und mal in die Trickkiste gegriffen. Zum Beispiel beim Rauchen. Ihr Mann verabscheute den Gestank der Zigaretten. Also stellte Mimi, nachdem sie in der Küche eine geraucht hatte, den Toaster so lange an, bis es nach verbranntem Brot und nicht mehr nach Zigarette roch. Er ist ihr nie auf die Schliche gekommen.

35 Ehejahre, die reichen für ein Leben, fand Mimi. Natürlich ist man manchmal einsam. Doch musste ohne Mann gleich das Leben vorbei sein, wie ihre alten Freundinnen meinten, die sie jetzt nicht mehr zum Abendessen einluden, weil sie Angst um den eigenen Ehemann hatten?

Jetzt waren die Jahre der Not vorbei und sie konnte ans gute Leben denken. Dazu gehörten: ein schönes Haus, Reisen und Auto fahren. Und die Familie, die Kinder, die Enkelkinder. Sie hatte alles. Sie reiste nach Südafrika, Namibia, Australien, Südamerika, Indien, Japan, Russland, China, Lappland, Ägypten. Allein. Und zum Einkleben der Fotos blieb keine Zeit. Sie machte sich gern aus dem Staub, besonders vor runden Geburtstagen. Kurz vor ihrem 85. Geburtstag raste sie mit ihrem weißen Stadtflitzer zum Reisebüro und buchte eine Fahrt ans Nordkap. Zu ihrem Geburtstag stand sie mit Fellmütze und Pelzmantel auf einem kleinen Boot, das auf einen mächtigen Eisberg zuschaukelte und freute sich, dem Festgeschehen wieder einmal entkommen zu sein.

Wieder zu Hause ging ihr Leben so: sieben Uhr aufstehen, das Fenster weit auf, den Tag begrüßen, zehn Minuten Bürstenmassage unter der kalten Dusche. Nach dem Frühstück sammelte sie die Krümel auf dem Boden einzeln auf, mit durchgedrückten Knien: als Gymnastik. Dann schnell ins Büro gesprungen und die Buchhaltung für die große Zahnarztpraxis ihres Schwiegersohns erledigt und anschließend in die Küche: jeden Tag Mittag kochen für Kinder und Enkelkinder. Dann wieder an den Schreibtisch, soviel wie möglich mit dem Kopf rechnen, als Gymnastik natürlich. Und am Nachmittag auf den Tennisplatz, in den Yogakurs, zum Spanisch. Abends gern in die Oper, immer sportlich-elegant, in Hosen, ganz in Weiß mit rotem Seidentuch, und anschließend natürlich in die Theaterkantine und diskutieren bis spät in die Nacht.

So sah er aus, der normale Tag im Leben einer 85-Jährigen, bis auf das Tennis und den Yogakurs auch noch der der 90-Jährigen. Es kann einem schon der Atem stocken. Fehlt nur noch, dass sie zwischendurch Morde aufklärte, die resolute Mimi, die niemand Oma nennen durfte, ohne ihren Zorn zu erregen. Einbrecher hat sie tatsächlich einmal verjagt – mit der freundlichen Bemerkung: „Verzeihen Sie, hier wurden gar keine Handwerker bestellt.“ Da konnten die Diebe weglaufen, und niemand war in Gefahr.

„Ich habe meine Knie geküsst“, sagte sie einmal zu ihrem Sohn, „sie sind wunderbar. Sie haben wieder den ganzen Tag nicht wehgetan.“ 40 Jahre nach ihrer Zeit auf der Isolierstation starb sie. Mit 94 Jahren, an den Folgen der alten Gelbsucht.

Kirsten Wenzel

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