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Wirtschaft: Geb. 1917

Gerhart Boré

Gerhart Boré

15. 5.1975, 23 Uhr. Gerhart Boré steigt in den Nachtzug nach Belgrad. Er will morgens um acht das Flugzeug nach Berlin erreichen. Er ist müde, schläft ein, die Tagung mit den Rundfunkleuten war anstrengend. Er erwacht dreieinhalb Wochen später in einem Bett der Universitätsklinik Skopje.

Der Zug war auf einer Brücke entgleist, die letzten sechs Wagen ins Wasser gefallen. Gerhart Boré überlebte als Einziger seines Abteils, schwer verletzt. Die Frau wurde erst Tage später unterrichtet: „Wenn Sie schnell kommen, können Sie ihn vielleicht noch lebend antreffen.“

Schädelbasisbruch, zeitweise halbseitige Lähmung. Er konnte zwar bald wieder sprechen, unterhielt sich mit den Ärzten, mit seiner Frau, aber sein Gedächtnis reichte anfangs nur für wenige Minuten.

Es wurde besser, aber zur Sicherheit legte er ‚Memory-Akten’ an. Auszüge aus dem Ordner Gedächtnis H bzw. K: Behelfsmäßiges Abstellen des Wasser-Zulaufs im ‚Hänge-Klo’. Nebst Unterlagen, in denen der neue Herd auf seine Belastungsgrenzen hin überprüft wird, sowie der finalen Entwarnung: „Sollten im ungünstigsten Fall einmal alle Koch- und Backeinrichtungen auf die höchste Stufe geschaltet werden, so springt allenfalls die 25-A-Sicherung heraus. Ein Schaden kann nicht entstehen.“

Alles hat er in seinem Ersatzgedächtnis notiert, von A bis Z, meist versehen mit Zeichnungen oder Illustrationen aus der Zeitung: Anzugsmaße, Schuhgrößen, und die Schalterstellungen seines neuen Heizkissens.

Andere Unfallfolgen waren gravierender. Das Schlimmste, für ihn, der Verlust des absoluten Gehörs. Sein rechtes Ohr war beinah taub. Er konnte zwar wieder in seinem Beruf arbeiten, aber nur, so die Respektsbezeugung der medizinischen Gutachter, weil er so viel Verstand besaß, dass er sich leisten konnte, Überkapazitäten einzubüßen.

Gerhart Boré war ein Spezialist. Ein Fachidiot für Außenstehende, Typ autistischer Hacker. Für Insider: ein Genie.

Schon sein Magdeburger Elternhaus hatte er als kleiner Junge komplett verkabelt. Wenn die Putzfrau den Schreibtisch aufräumen wollte, ließ er Funken fliegen. Wenn sich die Eltern im Wohnzimmer über eine seiner Kinderkrankheiten unterhielten, hörte er das oben in seinem Zimmer mit, und ließ dann per Lautsprecher nach unten melden: „Alles halb so schlimm!“

Das Credo der Daniel Düsentriebs: Diese Welt ist keinesfalls die beste aller möglichen. Es fehlt immer etwas. Ob das die Lampe ist, die signalisiert, wenn der Kühlschrank nicht ordentlich geschlossen wurde, oder die Dinge, die ein Laie nicht mehr begreift. „Transistorbestückte Kondensatormikrophone in Niederfrequenzschaltung“ etwa.

Gerhart Boré gilt als der Vater der Phantomtechnik. Sein literarisches Hauptwerk in unzähligen Auflagen: „Mikrofone. Für Studio und Heimstudioanwendungen.“ 26 Jahre und sechs Monate arbeitete er als Entwicklungsingenieur. Seine Kinder: die Standardmikrofone U67/77/87. Das erste Kleinmikrofon KM 64, das erste Stereomikrofon – achteinhalb Jahre vor der Konkurrenz.

Die Berliner Firma Neumann, Weltmarktführer im Bereich Mikrofontechnik. 30 Millionen Euro Umsatz. Überall werden mit Neumann-Geräten Konzerte veranstaltet, Platten aufgenommen, Predigten gehalten. Papst Johannes Paul II. flüsterte einst in ein krummes Neumann-Mikrofon. Desgleichen, in unseren Tagen, Bryan Adams.

„Neumann hat der Welt eine Stimme gegeben.“ Genauer gesagt: Gerhart Boré.

Er hatte ein Angestelltengehalt. Fuhr am liebsten Fahrrad. Trug die Kleidung stets einen Tag über das Zerfallsdatum hinaus. Packte selbst den Koffer wieder aus, der Wochen nach dem Zugunglück aus dem Wasser gefischt worden war. „Die Stockflecken waschen sich doch prima wieder raus…“

Aber ein gut aussehender Mann, Typ James Stewart im Weihnachtsfilm. Einer, der von Frauen erobert wird. Etwas linkisch, und immer etwas zu bescheiden. Nicht der Verführer, eher der Behüter. Seinen Töchtern trug er die Stullen auf den Schulhof hinterher. Akkurat geschmiert, jeder Millimeter mit Wurst bedeckt, aber auch nicht mehr.

Und er war stets bereit, Entschuldigungen zu schreiben, falls sie nicht zum Training wollten, denn für ihn war Sport die Extremform sinnloser Aktivität. Als er selbst einmal von der Firma zu einem Fußballturnier verpflichtet wurde, nahm er sich eine Trainerpfeife, und immer wenn der Ball ihm zu nahe kam, hat er gepfiffen: sich selbst und anderen zur Warnung.

Ein fürsorglicher Mensch, seinen Kindern und Pflegekindern, wie auch seiner Frau gegenüber. Deren Vater war in der bekennenden Kirche gewesen, hatte oft Flüchtlinge versteckt, und wurde deswegen häufig von der Gestapo aufgesucht. Die Tochter war Zeuge, und immer wenn sie im späteren Leben lederne Mäntel sah, kam ihr das ins Gedächtnis, und die Angst kehrte wieder. Er hat sie bemuttert, zu sehr vielleicht. Er selbst hatte weniger Glück. Als er ins Krankenhaus kam, einer Lappalie wegen, fiel er aus dem Bett, weil kein Gitter angebracht worden war. Oberschenkelhalsbruch. Lungenentzündung.

Er sollte sitzend im Lehnstuhl einschlafen, so war es von seinen Töchtern geplant, die ihn im Alter behüteten. Daraus wurde nichts. Aber auch da hat er nicht viel Aufhebens von gemacht, sondern sich mit seinem Lieblingsgedicht verabschiedet – gewidmet allen Jagdhunden, die ihre Beute aus Müdigkeit oder gutem Willen verfehlen: „Ich bin schlau, meine Schnauze ist grau, jetzt will ich schlafen, wau, wau, wau…“

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