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Wirtschaft: Geb. 1922

Günther Zimmermann

Vielleicht rührte seine Milde im Kleinen daher, dass er wusste, wie geschickt sich die Großen versorgen.

Der Mann wird verraten, verkauft, verprügelt, verliert Hab und Gut und die Gesundheit, aber niemals den Glauben an die Welt, die er für die bestmögliche hält, zumindest in seinem Schrebergarten. Ein Dummkopf?

Voltaires „Candide“, erschienen 1759, war ein Buch so voll der unwahrscheinlichsten Zufälle und Grausamkeiten, dass es die Zeitgenossen für eine Satire hielten. Heute lesen wir anders. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es viele „Candides“. Soldaten, die heimkehrten, verraten von ihren Befehlshabern, verwundet, körperlich wie seelisch, ohne rechtes Zutrauen zu denen, die schon wieder die große Politik machten.

Günther Zimmermann war einer von ihnen. Jeder sah es ihm an. Das Kainsmal des Krieges. Ein Granatsplitter hatte ihm einen Teil der Schädeldecke weggerissen. Er lag schon auf dem Haufen der Leichen, als ein Sanitäter den Halbtoten rettete.

Er überlebte den Krieg, kam nach Hause, nach Berlin. Sein Vater hatte die Stadt verlassen, die Mutter hatte sich umgebracht. Günther Zimmermann erhielt als Schwerbeschädigter 69 DM Versehrtenrente, weit weniger als später die Pensionen vieler, die den Krieg zu verantworten hatten. Immer wieder forderten ihn Freunde auf, mehr zu verlangen. Aber das war nicht seine Art.

Er begann eine Lehre als Bäcker und Konditor, aus einem sehr handgreiflichen Grund: Die Hälfte des Lohns wurde in Brot und Backwaren ausbezahlt, und so litt er keinen Hunger mehr. Er wurde Geselle, Meister, aber da sich durch die Kriegsverletzung immer wieder kleine, kleinste Splitter lösten, die in Verbindung mit dem Mehlstaub zu Entzündungen in der Stirnhöhle führten, taugte er nicht mehr für den Beruf. Außerdem hatte er eine Frau kennen gelernt, eine, die ihm sein eigenes Leben ließ und nicht das ihre aufzwang. „Tu endlich, was du willst! Studiere!“

Zunächst versuchte er sich im Lehramtsstudiengang, aber die Pädagogen, nicht selten noch immer Kathedernazis, waren nicht nach seinem Geschmack. Er wechselte zu den Juristen, mit Erfolg. Günther Zimmermann wurde Richter, im Amtsgericht Tiergarten, Abteilung Verkehrsdelikte, und er war der mildeste Verkehrsrichter, den Berlin je hatte. „Ach, beim Zimmermann!“, das war der erleichterte Seufzer der Anwälte wie der Angeklagten, wenn klar war, dass er die Verhandlung führen würde.

Manche werden Richter, weil sie strafen wollen, andere, weil sie vor Strafen bewahren wollen. Günther Zimmermann hat das Richteramt geliebt, nicht weil er glaubte, die Welt von allem Bösen befreien zu können. Er wusste aus Erfahrung und aus der Lektüre unzähliger Bücher, dass Gerechtigkeit kaum mehr ist als eine melancholische Mahnung. Durch keine noch so harte Strafe lassen sich die Menschen von ihrem Egoismus kurieren. Einen Denkzettel kann man ihnen ab und an verpassen, dazu muss man nicht den Diktator in Robe mimen. Solche kannte Günther Zimmermann aus der Kriegszeit zur Genüge; vielleicht war er deshalb so mild, wenn es galt, einem Bauarbeiter den Führerschein wegen Trunkenheit abzunehmen.

„Und? Nu erzählen Sie mal Angeklagter!“

„Na, wat soll ick sagen Herr Rat: Wir ha’m da uff schlecht Wetter jemacht, dann hat der Polier, den Willi, was unser Lehrling is’, nach ’ner Kiste Bier geschickt. Und dann war elf und immer noch schlecht Wetter, also noch ’ne Kiste Bier. Und noch eene.“

„Zeuge Polier, was haben sie denn so getrunken an Alkohol an diesem Tag?“

„Nee Herr Rat, Hand uffs Herz, Alkohol ham wa da gar keen getrunken!“

„Aber sein Sie doch vorsichtig, was Sie da sagen, selbst der Angeklagte hat ja gerade eingestanden, dass Sie zu zweit drei Kisten Bier getrunken haben!“

„Aber Herr Rat! Bier is doch keen Alkohol!“

Es gibt viele Formen der Wahrheit, ein guter Richter muss sie unterscheiden können. Günther Zimmermann war ein guter Richter, und weil er nicht nur Gut und Böse, sondern auch Backbord und Steuerbord unterscheiden konnte, wurde er, neben seinem eigentlichen Amt, auch noch Schifffahrtsrichter, der einzige in Berlin.

Seine freie Zeit verbrachte er auf seinem Laubengrundstück an der Scharfen Lanke, von dort kam er ins Gericht, in Latschen und Jeans, darüber die Robe, und in den Zigarettenpausen, wenn er es sich bequem machte, konnte jeder einen Blick auf seine Stachelbeerwaden werfen.

Günther Zimmermann war ein gesuchter Freund, gesellig, aber verhalten was das Renommieren anbelangte: eine kleine Wohnung, ein großer Freundeskreis. Menschen, die zu schätzen wussten, dass er zwischen richtigen und falschen Sorgen unterscheiden konnte – und dass er auch gern einen trank.

Wütend wurde er nur, wenn das Gespräch auf die Stadtpolitik kam. Er war ein Sozialdemokrat, ohne Parteibuch, und ohne Hoffnung auf die Parteien. „Alle sind sie korrupt durch und durch. Die Stadt taugt nichts, und ist auch nicht mehr hinzukriegen. Der Fisch stinkt vom Kopf her!“

Vielleicht rührte seine Milde im Kleinen daher, dass er wusste, wie geschickt sich die Großen versorgten. Mit all dem wollte er nichts zu tun haben. Da war er verzagt, zu verzagt vielleicht. Und so beschied er sich wie sein Vorgänger Candide damit, in öffentlichen Dingen zu schweigen und seinen eigenen kleinen Garten zu bestellen. Gregor Eisenhauer

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