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Wirtschaft: Geb. 1924

Harald Haacke

Harald Haacke

Anfang Mai 1993 hielt eine große schwarze Limousine vor Harald Haackes Haus. Es stieg aus: der Bundeskanzler Helmut Kohl. An der Seite des Hauses ließ er sich die schmale Treppe hinunter in das kleine Atelier führen. Auf den Fotos dieses Tages sieht man den Kanzler gestenreich und gut gelaunt neben einer Gipsplastik eine Rede halten. Es war seine Lieblingsplastik, die Pietà: eine acht Zentner schwere Vergrößerung der Skulptur „Trauernde Mutter mit totem Sohn“ von Käthe Kollwitz. Kohl hatte die Kopie in Auftrag gegeben, seit zehn Jahren steht sie nun in der Neuen Wache Unter den Linden. Harald Haacke hatte sie gefertigt, sechs Monate lang, Tag für Tag. Jeden Gesichtszug und jede Gewandfalte hatte er mit dem 38-Zentimeter kleinen Original von Käthe Kollwitz abgeglichen.

Es muss ein schöner Tag gewesen sein für Harald Haacke. Dem Kanzler gefiel die Arbeit, er lobte den Bildhauer mit vielen Worten und bot ihm zusätzliches Geld an. Aber auf den Fotos ist nirgends ein strahlender Harald Haacke zu sehen. Nur ein kleiner Mann mit zurückgekämmtem Haar und großer Silberbrille, der still und unauffällig, halb verdeckt vom Begleittross Helmut Kohls in einer Ecke seines Ateliers steht.

Ob Lob vom Bundeskanzler oder Familienprobleme, ob er stolz, glücklich oder traurig war – Harald Haacke hat nicht gezeigt, was in ihm vor sich ging. Wie er sich wirklich fühlte, das wussten auch seine besten Freunde nicht. Jubelnd, schimpfend oder weinend – so hat selbst seine Frau ihn nie gesehen. „Ich bin froh, dass ich Dich habe“ – das war Haackes romantischste Liebeserklärung. Dabei war er keineswegs gefühlskalt. Wie es anderen ging, hat ihn immer interessiert. Und hilfsbereit war er. Sein Werkzeug und Baumaterial verlieh er und sah darüber hinweg, wenn mal etwas nicht zurückgegeben wurde.

Eben dieser Zurückhaltung verdankt der Künstler Harald Haacke einen großen Teil seiner Karriere. Für die Gestaltung der Neuen Wache bewarben sich viele Künstler aus aller Welt – allerdings mit ihren eigenen Entwürfen. Aber eine fremde Plastik lediglich vergrößern? Das wollte keiner machen. Nur Harald Haacke, der kannte sich mit so was aus. Dabei war ihm die Bildhauerei, auch wenn er sie nur kopierte, mehr als eine handwerkliche Übung. Denn etliche Details, Gesichtsfalten, Knochenformen zum Beispiel, sind bei einer sehr kleinen Original-Skulptur gar nicht erkennbar, dürfen aber bei einer Vergrößerung nicht fehlen.

Unter Kollegen wurde Haacke für die Gründlichkeit seiner Restaurierungsarbeiten sehr geschätzt, er blieb aber stets ein Sonderling. Wenn seine Freunde in der Kneipe mit viel Bier einen Ausstellungserfolg feierten, dann saß Haacke still mit seinem Mineralwasser dabei. Und wenn er in der Runde dann doch mal ansetzte und etwas erzählen wollte, dann merkten die anderen am Tisch das oft gar nicht. Er sprach so leise.

Warum er so war, warum seine Emotionen so gedämpft schienen, danach hat ihn nie einer gefragt. Er war eben so – ganz anders als früher: Nach der Grundschule in Wandlitz, als er die Steinmetz-Lehre begann und nach Feierabend ins Schwimmbad fuhr zum Beispiel. Voller Ehrgeiz und Kampfgeist war er da, bei den Schwimmwettkämpfen holte er ein paar Mal den Siegerpokal. Aber dann gab es für Harald Haackes Kämpfe plötzlich keinen Pokal mehr. Mit 19 Jahren robbte er, Schulter an Schulter, mit seinen ehemaligen Schwimmkameraden durch die Schützengräben an der Ostfront in Russland. Eine Granate tötete eines Tages den Kameraden direkt neben ihm. Auch Harald Haacke selbst wurde schwer verletzt. Die halbe Lunge starb ab. Der gut Trainierte überlebte, aber schnell schwimmen konnte er nie wieder, bei jeder schweren körperlichen Anstrengung schnaufte er jetzt schwer.

Die Bildhauerei gab er trotzdem nicht auf. Und da war er mindestens so gut wie früher auf der Schwimmbahn. Bereits als junger Mann erhielt er Preise und Stipendien, wurde von bekannten Professoren gefördert. Seine Welt war das Atelier. Zu Bachs Brandenburgischen Konzerten aus zwei kleinen Lautsprechern modellierte und formte er Skulptur um Skulptur. Seine Portraitbüsten, Reliefs und Skulpturen stehen heute in ganz Berlin – vor dem Schloss Charlottenburg zum Beispiel, auf Friedhöfen und vor Bezirksrathäusern. 1992 stellte er in seinem kleinen Atelier das Kaliningrader Kant-Denkmal her, eine Nachbildung der verschollenen Plastik von Christian Daniel Rauch.

Als er 60 war, diagnostizierten die Ärzte Krebs. Harald Haacke stieg trotzdem weiter hinunter in sein Atelier. Jeden Tag. Nach beinah 20 Jahren begann dann die linke Hand, seine Arbeitshand, taub zu werden. Die Metastasen hatten sich überall in seinem Körper ausgebreitet. Vor wenigen Tagen, kurz vor seinem 80. Geburtstag, starb Harald Haacke an Herzversagen.

Juris Lempfert

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