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Wirtschaft: Geb. 1925

Gerhard Fischer

Immer auf die Linie achten und dann noch auf den Leser. Er war der größte Chefredakteur der DDR, man konnte ihn wirklich nicht beneiden.

Ein Boxer stürmte in die Redaktion, riss die Tür auf, an der „Chefredakteur“ stand, wedelte mit der Zeitung und schrie: „Waren Sie das?“ Es war Montag, im Sportteil wurde der Boxer in der Stunde seiner Niederlage beschrieben, und nun wollte der Mann mit dem blauen Auge Rache oder Wiedergutmachung. Der Chefredakteur schraubte sich aus seinem Sessel, immer höher, weit über den Kopf des Boxers hinweg. Der Chefredakteur maß fast zwei Meter. Der Boxer murmelte noch etwas von „bisschen hart“ und „eigentlich wollte ich zur Sportredaktion“ und ging.

Das war irgendwann in den fünfziger Jahren in Halle an der Saale. Mit 29 war dort Gerhard Fischer Chefredakteur der „Liberal-Demokratischen Zeitung“ (LDZ) geworden, recht jung für so einen Posten – der Mann musste also journalistische Fähigkeiten haben. Als Jung-Reporter hatte er bei einer der ersten Leipziger Nachkriegs-Messen, als Transportarbeiter getarnt, Kisten ausgepackt, um für das „Sächsische Tageblatt“ zu berichten, woher das Messegut kam, natürlich „aus aller Welt“. Irgendwie wollte er schon damals stolz sein auf das, was sich in dem „zukunftsfrohen Teil Deutschlands“ tat, Neugier und Sehnsucht verbündeten sich, und er steckte damit manch eine Seele an. Damals, 1954, als es noch „Deutsche an einen Tisch“ hieß und er einen Volontär von der Wernigeroder „LDZ“ zur Weihnachtsfeier eines Skiclubs auf den Brocken schickte, weil von diesem deutschen Berg an jenem Abend ein Ruf zur „Einheit unseres Vaterlandes“ ausging – es war die Zeit, als Bechers Hymnentext noch nicht auf dem Index stand, sondern kräftig mitgesungen wurde. Wer wollte nicht, dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint?

Für Gerhard Fischer, den sie den größten Chefredakteur der DDR nannten, ging bald die unbeschwerte Zeit in Halle zu Ende. Da waren noch die Wochenendkonferenzen am Freitagabend mit orgiastischen Feten begossen und mit der 36. Strophe von „Es hängt ein Autoreifen an der Wand“ beendet worden. 1955 wurde Fischer als Chefredakteur des „Morgen“ nach Berlin berufen. Hier, in der Taubenstraße, gingen die Dinge einen anderen Gang. Im Zeitungskopf des „Morgen“ stand „Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands“. Jedes Komma war wichtig, und alles geschah ganz nah am Presseamt, das drei Häuser weiter residierte, die tägliche Order ausgab und die Meinungen in jenem Gebäude diktierte, in dem schon Joseph Goebbels kund getan hatte, was die Partei dem Volk befahl.

Chefredakteur war kein beneidenswerter Job. Immer auf „die Linie“ achtend, stets mit einem Ohr am Leser und seinem Informations- und Unterhaltungsbedürfnis, und mit dem anderen dort, wo gesagt wurde, wie dies und jenes gesehen und beschrieben werden muss, damit es das störrische Volk kapiert. Für die „führende Kraft“, die SED, waren Zeitungen „kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator“, die „kleinbürgerlichen Blockflöten“ hatten sich dieser Definition mit jeder neuen Ausgabe ihrer bei den Papierkontingenten kurz gehaltenen Blätter zu unterwerfen. Und dennoch gab es Freiräume, Zwischentöne, hier und da Grenzüberschreitungen, bewusst und unbewusst.

Wichtig war, in welcher Weise der lange Chef, meist hemdsärmelig und am liebsten mit Zigarre und ohne das XXL-Sacco, mit solchen Dingen umging, wie er verfuhr, wenn einer die ausgetretenen Pfade verließ. Je nach dem Grad der Eigenmächtigkeit konnte er laut werden, drohte mit „ideologischen Korsettstangen“ und mit Liebesentzug – aber nach außen hin stellte er sich mit dem breiten Kreuz vor seine „politischen Wickelkinder“, väterlich, fair, wie ein Fußballtrainer. Als eine Redakteurin einmal im Artikel die Interbrigaden mit der Legion Condor verwechselte, gab es keine Rüge, sondern einen kleinen Vortrag über den spanischen Bürgerkrieg. Als sich eine Mitarbeiterin von den Anwerbungsversuchen der Stasi belästigt fühlte, kümmerte sich der Chef darum, dass sie in Ruhe gelassen wurde.

Die Zeitung „Der Morgen“ war, wie die „Neue Zeit“ von der CDU, ein bisschen anders als die Blätter der SED. Ein bisschen. Man versuchte, so etwas wie eine eigene Sprache zu finden, bürgerlich-liberal wenn’s geht. Natürlich gab es für den Parteifreund Chefredakteur zunächst die Pflicht – aber auch für die Kür war er immer zu haben. Wenn vorn im Blatt auf Anweisung des ZK die Ernteschlacht geschlagen wurde und jeden Tag ein neuer Mähdrescher durch die Spalten rollte, sorgte der Chef dafür, dass hinten Bademeister, Eisbären, Bikinimädchen und Seltersproduzenten ins Blatt kamen. „Wir sind ja hier keine Schuhcremefabrik“, pflegte er zu sagen.

Sozialismus war für ihn keine Floskel, sondern ein Ziel. Und die DDR war die größte auf der Welt. Die ließ er sich nicht kaputtschreiben. Tiefe Zweifel und Bedenken gestand er sich und anderen nicht zu. Er verdrängte diese Art der Hörigkeit gegenüber jenen, die schließlich das Schiff auf Grund gesetzt und die Ideale ramponiert hatten. Als eine Ressortleiterin vom West-Besuch bei ihrer alten Mutter zurückkam und vom Bodensee schwärmte, fragte Gerhard Fischer nur: Gibt es nicht auch bei uns schöne Seen, zum Beispiel den Balaton?

War das Überzeugung? Pflichtbewusstsein? Parteilichkeit? Naivität? Vielleicht von allem etwas. Als der Chefredakteur im Herbst 1989 nach 34 Jahren sein Amt aufgab, ging einer, den das Scheitern seiner Utopie tief getroffen hatte.

Nun stehen wir auf dem Friedhof an der Wuhlheide vor dieser kleinen Urne mit dem großen Chef. Marianne, die Ehefrau seit 56 Jahren, die beiden Söhne, die in Vaters Fußstapfen getreten sind, ein Enkel, der über zwei Meter misst. Einer vom „Morgen“ beendet seine Trauerrede mit der Hoffnung, dass es so etwas wie einen Himmel für Journalisten gibt: „Sollten wir uns dort wiedersehen, werden wir wieder eine Zeitung machen, gemeinsam.“

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