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Wirtschaft: Geb. 1928

Walter Tutz

Von David Ensikat

Walter Tutz

Wer hätte das gedacht. 150 Autos hatte ich und ein Hotel mit ein paar Tausend Mark Umsatz. Millionär war ich mal. Jetzt sitz’ ich hier, hab’n Kiosk und einen Umsatz von 250 Euro.

Ja, Walter, sag ich doch. Mach den Kiosk zu. Setz’ dich zur Ruhe.

Und was dann? Was soll ich machen? Ich geh doch drauf, wenn ich nichts zu tun habe.

Dann nimmst du dir den Hund und gehst spazieren. Da lernt man jede Menge Leute kennen. Wirst sehen. Mach den Kiosk zu.

Jetzt ist der Kiosk zu. Walter Tutz ist gestorben, in einer Novembernacht, in seiner Wohnung überm Kiosk. Am nächsten Morgen, zwischen fünf und sechs hätte er ihn wieder aufgemacht, ganz sicher, trotz der Rückenschmerzen, trotz des miesen Umsatzes. Weil er nicht aufgemacht hat, rief eine Nachbarin den Krankenwagen, die Sanitäter konnten nichts mehr tun, das Herz.

Dann kam auch Aslan, der Türke, den Walter Tutz wie einen Sohn herangezogen hatte, der für Walter Tutz gearbeitet hatte, erst im Rotlicht-Hotel, dann im Kiosk. Aslan, der als einziger vor ein paar Monaten Walter Tutz zum 75. Geburtstag besucht hatte, der schon lange fand, dass der Kiosk nicht das Richtige für den alten Walter sei. Aslan stellte ein paar Kerzen vor den Laden, Friedhofskerzen mit rotem Plastikmantel, und legte Blumen hin. Bald kam ein Brief dazu vom Schwulencafé gegenüber (wer von denen ihn auch immer da hingelegt haben mag – andere sagen: Der Tutz, das war ein Arsch, der wollte uns hier genauso wenig wie die anderen in der Straße). Mehmet aus dem Haus neben dem Schwulencafé schnitzte ein Holzkreuz und stellte es zu den Blumen. Auch Mehmet hat mal für Walter Tutz gearbeitet.

Flachmänner auf der Kühltruhe

Andere Nachbarn, die bei ihm immer eingekauft hatten, legten Blumen dazu, vielleicht auch der ein oder andere von denen, für die Tutz’ Kiosk wohl am wichtigsten gewesen war. Das waren die Säufer, die ihre Flachmänner auf seiner Kühltruhe abgestellt, die bei ihm gesoffen und gequatscht hatten, die Walter Tutz immer mal herausgeschmissen und wieder hereingelassen hatte – raus mussten sie, wenn sie zu blau waren, rein durften sie, weil sie Umsatz machten.

Ein paar Tage hat es gedauert, bis alles weg war, die Blumen, die Kerzen, die Briefe, das Kreuz. Hier in der Schöneberger Alvenslebenstraße, die von der Potsdamer abgeht, bleiben solche Sachen nicht lang liegen. Es ist keine feine Gegend, die Deutschen ziehen weg, das Schwulencafé hat Probleme mit den jungen Arabern, die Araberkinder haben auch Walter Tutz schwer genervt, geklaut haben sie, denn er konnte ihnen nicht hinterherrennen, beleidigt haben sie ihn, denn er hat sie angebrüllt, wenn sie den Kaugummiautomaten am Nachbarhaus auseinander nahmen. Aber ein bisschen Umsatz haben auch sie gemacht. Zigaretten haben sie gekauft, weil Walter Tutz die auch einzeln weggab, und zu Silvester haben sie sich Knaller bei ihm besorgt. Er hat sie vorm erlaubten Termin verkauft, bis er dafür mal vor dem Richter stand.

Fast jeder in der Nachbarschaft weiß ein bisschen über Walter Tutz, aber so richtig gut kannte ihn kaum jemand. Da soll was mit einem Puff gewesen sein, darüber hat er nicht groß geredet. Aus Sachsen stammte er. Er kam eigentlich mit allen gut aus – wenn jemand rechts quatschte, dann tat er es auch, wenn ein Kunde ein Linker war, dann redete der Kioskverkäufer links. Und dann, so sagt die Türkin von gegenüber, die ihm immer mal was zu Essen rüberbrachte, weil er sich sonst nur von Büchsenzeug ernährte, dann ist er doch immer mittags kurz weggegangen: „Der hatte wohl noch ein Zimmer in der Potsdamer, das hat er an Nutten vermietet, und mittags wird er wohl das Bett gemacht haben.“

Die Einbeinige auf dem Elektrokasten

„Ein Zimmer in der Potsdamer?“, sagt Aslan erstaunt. „Der Walter konnte doch sein eigenes Bett kaum machen.“ Aslan, inzwischen Mitte dreißig, kannte Walter Tutz, seit er fünf war. Er verdankt ihm viel. Dass er perfekt deutsch spricht, dass er ganz gut klarkommt in Deutschland, dass er sein Abitur gemacht hat. Ja, sicher, Walter Tutz hat ihn auch ausgenutzt, hat ihn arbeiten lassen für wenig Geld, irgendwann kam’s deshalb zum Krach. Aber wenn man das heute so betrachtet, dann muss man sagen, nein, dann muss man schreiben: „Der Walter war ein feiner Kerl.“

Der Walter war eine große Nummer in der Rotlichtszene, als Aslan ihn kennen lernte. Aslans Bruder stellte ihn damals seiner Familie vor, die sollte mal den Chef kennen lernen. Und der kleine Aslan hat ihm, dem Chef, dann so sehr gefallen, dass der ihn quasi adoptierte. Anstelle der eigenen zwei Söhne, mit denen er schon lange nichts mehr zu tun hatte.

Walter Tutz führte damals das „Hotel am Sportpalast“, eine dreistöckige Absteige mitten im Ganoven- und Nuttenkiez um die Potsdamer Straße. Da standen alle paar Meter die Damen auf den Gehwegen. Auf dem Elektrokasten Potsdamer- Ecke Winterfeldtstraße saß die dicke Einbeinige in den engen schwarzen Hosen, die Krücken neben sich gelehnt und wartete auf Kundschaft. Die nahm sie dann die paar Meter mit um die Ecke in Walter Tutz’ Hotel, mietete eins der Freierzimmer für 25 Mark die halbe Stunde.

Walter Tutz stand schon damals sehr früh auf, so gegen sechs, lief über die Straße zum Hotel, holte die Einnahmen der Nacht ab und brachte sie zur Bank. Dann kümmerte er sich ums Geschäft, den ganzen Tag. Wenn er mal nichts zu tun hatte, stand er vorm Hotel, hielt seinen Pekinesen im Arm und war einer der vielen, die hier eben so herumstanden. Immer mal fuhr er mit den Taschen voller Geld nach Zehlendorf. Da wohnte in ruhiger Lage zwischen all den anderen Gesitteten die Besitzerin des Schöneberger Puffs und ließ ihren Geschäftsführer Bericht erstatten und Geld ausliefern.

Beziehungen zur Kripo

Der kleine Aslan wuchs in der Winterfeldtstraße auf, spielte im Milieu Räuber und Gendarm und war der Liebling aller. Seit er zehn war, half er nach der Schule aus: in der Wäscherei, beim Bettenmachen, später am Empfang. Mit seinem Katapult schoss er in der Gegend herum – und traf einmal seinen Quasi-Vater am Handgelenk. Das wäre halb so schlimm gewesen, hätte Walter Tutz da nicht seine Rolex getragen. Die war jetzt hin, und Aslan bekam eine Backpfeife. Dann war ganz schnell alles wieder gut – und Walter Tutz trug seitdem gar keinen Schmuck mehr. Die Rolex war das einzige gewesen, woran man hätte erkennen können, dass er zu den Zwielichtigen gehörte. Während die anderen mit ihren Ringen und Ketten nur so klimperten, sah der Puffchef in seinen grauen ausgebeulten Hosen, dem braunen Jackett und den Lederlatschen aus wie der olle Papi von nebenan.

Dabei war er wirklich wer. Dem konnte keiner. Die schweren Jungs sagten: „Walter, wenn was is’, sagste Bescheid, dann regeln wir das.“ Er hatte beste Beziehungen zur Kripo und zur Ausländerbehörde, er verpfiff immer mal einen Ganoven, der’s übertrieben hatte, und vermittelte dem auch gleich einen Rechtsanwalt und legte das Geld fürs Verfahren aus. Wenn eine Nutte einen besoffenen Freier ausgenommen hatte, dann sagte der Hotelchef zur Polizei: „Wie soll die ausgesehen haben? Kenn’ ich nicht, gibt’s hier nicht.“ Dafür bekam er von der Dame einen Hunderter ab. Die Polizisten wussten auch, dass er mit geklautem Kram handelte, es gab Razzien, aber irgendwie kam er immer davon. Hatte ja auch eine Schnauze, wie sonst niemand hier, quatschte jeden voll und sich aus der Klemme.

Waggons voll Eisen

Mit seiner großen Schnauze hat er es lange zuvor, nach dem Krieg in Zwickau, auch geschafft. Da war er Chauffeur des russischen Kommandeurs. Der mochte zwar die Deutschen nicht, aber der Tutz, der war ihm sympathisch. Der hat unterm Schutz und gewiss auch zu Gunsten seines Chefs mit Benzin und Eisen Handel getrieben, ganze Waggonladungen hat er an Betriebe verschachert. Bis der Kommandeur zurück nach Russland musste und Walter Tutz auch schnell weg. Die Polizei hatte ihn schon im Visier. Nach Düsseldorf ist er gegangen und hat dort einen Autohandel aufgemacht. 150 Wagen standen bald auf seinem Hof, alles lief prima, er heiratete und zeugte seine beiden Söhne.

Wie es genau kam, dass er nach Berlin flüchtete, ist nicht ganz klar. Die Version, die er erzählte, ging so: Die Frau hat das ganze Geld verjubelt, hat Schulden gemacht, und Tutz sollte dafür gerade stehen. Da ist er abgehauen. Nach der Version der Frau – Aslan hat sie jetzt, nach Walter Tutz’ Tod erfahren – hat der die Schulden selbst gemacht mit seinem Autoladen.

Jedenfalls hat die Frau nach vielen Jahren herausbekommen, wo er lebt, und ist nach Berlin gefahren. Die Söhne hat sie mitgenommen, einer ist zuerst aus dem Auto gestiegen, hat sich vor seinen Vater hingestellt, gefragt, ob der ihn kenne – nein, er erkannte ihn nicht – und hat ihm dann den Ausweis gezeigt. Seinen Nachnamen las Walter Tutz darin, geriet ins Wanken und musste sich an der Hauswand festhalten.

Mitte der achtziger Jahre verließ die Besitzerin des „Hotels am Sportpalast“ das Land, und Walter Tutz wurde Hotelbesitzer. Viel genutzt hat ihm das nicht, es war die Zeit, in der die Dinge nicht mehr so glänzend liefen. Die Gegend war als „Problemkiez“ entdeckt und wurde Sanierungsgebiet, nach ein paar Jahren gab Walter Tutz die Sache auf, sein Hotel wurde abgerissen, ein Wohnhaus hingestellt. Im Nachbarhaus machte er ein Zeitungsgeschäft und einen Spätverkauf auf, doch auch mit diesen Läden lief es nicht so richtig.

Schließlich ist er hundert Meter weiter in die Alvenslebenstraße gezogen, hat sich hier mit seinem Kiosk eingerichtet und Jahr für Jahr sein Sortiment erweitert. Wenn jemand die Zehn-Kilo-Packung Ariel wollte, hat er sie besorgt, wenn es irgendwo eine Palette Granini-Saft besonders billig gab, hat er sie gekauft, um ein paar Pfennige extra an der Einzelpackung zu verdienen. Wenn du ein Geschäft machen kannst, dann mach’ es, sonst macht’s ein anderer, hat er immer gesagt.

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