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Wirtschaft: Geb. 1929

Er wusste, warum es in der DDR keine Autoreifen, keine Kasslerkoteletts, keine Lederjacken und keine Scheibenwischergummis gab. In der sozialistischen Mangelwirtschaft jagte der Kriminalist jene, die es mit dem Volkseigentum nicht so genau nahmen.

Er wusste, warum es in der DDR keine Autoreifen, keine Kasslerkoteletts, keine Lederjacken und keine Scheibenwischergummis gab. In der sozialistischen Mangelwirtschaft jagte der Kriminalist jene, die es mit dem Volkseigentum nicht so genau nahmen.

Er rauchte zehn Zigarillos am Tag. Wenn er mal viel zu tun hatte, zündete er sich sogar einen am anderen an. Dann waren es doppelt so viele. Aber Rudolf Gaida hatte nicht die Nervosität eines Kettenrauchers, im Gegenteil: Er besaß eher die Gelassenheit eines Zigarrenrauchers. Denn zwanzig Zigarillos müssen mindestens so gut sein wie fünf Zigarren. Und nicht so aufreibend wie fünfzig Zigaretten.

So verschwenderisch er bei den Zigarillos war, so sparsam war er mit Worten. Was sollte er reden? Er stand im Mittelpunkt, er wurde respektiert, und er hatte alles im Griff. Wenn sich die Familie am Abendbrottisch stritt, sagte er eine Weile lang gar nichts. Dann sagte er leise: „Gut jetzt.“ Und dann war es eben gut. Seine Kinder Rayk und Jana schauten zu ihm auf, weil sie ihn so cool fanden.

Rudolf Gaida las Krimis: Er hatte alte DDR-Bücher mit inzwischen vergilbten Seiten. Wie „Künstlerpension Boulanka“ von Fritz Erpenbeck oder „Es reicht doch, wenn nur einer stirbt“ von Horst Bosetzky. Und er hatte neue, zum Beispiel die rororo-Zehn-Band-Ausgabe von Maj Sjöwall und Peer Wahlöö. Das ist ein richtiges Paket. Gaida las seine Krimis schnell, und weil er sich fürs Lesen viel Zeit nahm, las er unheimlich viele Krimis. Als die Ablagen im Wohn- und Schlafzimmer voll waren, zimmerte ein Tischler in zwei Flurnischen seiner Neubauwohnung zwei Extraregale hinein.

Rudolf Gaida musste sich für Krimis interessieren. Denn er arbeitete als Kriminalist, als Diplom-Kriminalist. Zum ersten Juli, dem „Tag der Volkspolizei“, schenkten ihm Rayk und Jana eine selbstgebastelte Karte mit gemaltem DDR-Emblem, geklebten Polizistenfotos und einem Glückwunsch in Filzstiftschrift. Heute ist ihnen das etwas peinlich.

Rudolf Gaida war der Mann, der wusste, warum es in der DDR keine Autoreifen, keine Kasslerkoteletts, keine Lederjacken und keine Scheibenwischergummis gab. Er war Wirtschaftskriminalist. Seine Leute stöberten durch Inventurbücher und Frachtpapiere um herauszubekommen, wer Volkseigentum stibitzt habe. Da gab es zum Beispiel 1975 die große Reifen-Affäre. Angestellte beim Staatlichen Chemiehandel ließen ganze Waggonladungen mit Autoreifen verschwinden, um sie auf eigene Rechnung unter dem Ladentisch oder auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Alle machten mit, alle verdienten mit: Nur irgendwann wunderte sich jemand, warum viel mehr Reifen produziert als offiziell verkauft wurden. Gaidas Abteilung deckte es auf: Ein riesiger Reifenräuberring wurde enttarnt. Es gab insgesamt 70 Angeklagte, das Gerichtsverfahren dauerte zwei Jahre. Für den schlimmsten Schieber gab es neun Jahre Haft.

Oder die Fleisch-Connection: Da wurden jahrelang die besten Stücke aus dem volkseigenen Fleischkombinat – Kassler und Schweinefilet – unter der Hand auf Privatrechnung verkauft. Los ging es im zentralen Schlachtbetrieb am S-Bahnhof Storkower Straße: Da hat der Wiegemeister die Lkw-Ladungen falsch gewogen. Die Fahrer lieferten dann in jeder Verkaufsstelle zwei Paletten ab: Die offizielle, und die mit dem guten Fleisch. Das offizielle Fleisch ging dann auf die Ladentheke, das gute wurde heimlich verteilt und an Stammkunden verkauft. Den Gewinn haben sich alle geteilt. Dieser Brauch hatte sich über ganz Berlin ausgebreitet.

Bis zum Ostermontag 1981, in der DDR war das ein Arbeitstag. Und Gaida wird an diesem Montag bestimmt die Gelassenheit von dreißig „Nestor“ gebraucht haben. Morgens um vier holten seine Polizisten alle vierzehn Fahrer und den Wiegemeister an der Tür des Fleischkombinats ab. Ein paar Tage später sammelten sie dann die Verkaufsstellenleiter ein. Die Berliner SED-Chefetage hatte sich gesorgt, dass in diesen Tagen die Fleischversorgung in der Stadt zusammenbricht und ein Volksaufstand entflammt. Also hatte Gaida für diese Aktion Extrafahrer und -verkäufer organisiert. Zwei Tage lang ließ er, einen nach dem anderen, Fleischverkäufer verhören. Am Ende standen 83 Beschuldigte vor der Anklagebank des Stadtgerichts in der Littenstraße und mussten erklären, wo 155 fehlende Tonnen Fleisch geblieben waren. Manche kamen mit einer Geldstrafe davon. Den Wiegemeister schickte das Gericht für 14 Jahre ins Gefängnis.

Dieser Krimi tauchte im legendären Gerichtsbericht der „Wochenpost“ auf, unter den authentischen Fällen, bei denen die Personen immer solch skurrile n wie Rudi Rabe, Florian Flügel oder Heiner Horn trugen. Und zum „Tag der Volkspolizei“ schrieben die Berliner Konsumgenossenschaft und die Einzelhandelskette HO Gaida einen anerkennenden Brief, in dem sie sich bedankten, dass er kriminelle Machenschaften in ihren Reihen aufgedeckt habe.

Im Polizeipräsidium in der Keibelstraße am Alexanderplatz, im Dezernat für Wirtschaftskriminalität, da hatte er einen großen Kasten mit A4-Karteikarten aus Pappe, und seine Notizen in altdeutscher Handschrift waren so verklausuliert, dass nur er damit etwas anfangen konnte. Seine Diplomarbeit war geheim, und bei ihm zu Hause durfte kein Exemplar liegen. Der Titel lautete „Die Aufklärung illegaler Waren- und Geldbewegungen über die Staatsgrenzen der DDR“. Ob er vielleicht gegen Rentner ermittelte, die DDR-Mark ihrer Enkel in den Westen brachten, um mit eingetauschtem Westgeld zurückzukehren, das wusste nur er. Selbst in der Familie soll er nicht von solchen Dingen erzählt haben. Vielleicht hat er auch aufgepasst, dass auf der Transitautobahn nichts von einem Kofferraum-Ost in einen Kofferraum-West wanderte. Manchmal vor dem Fernseher, bei „Ein Kessel Buntes“ oder anderen Shows der zwei staatlichen Sender, da zeigte er mit dem Finger auf einen DDR-Fernsehstar, der möglicherweise nach einer Westtournee seine Gage nicht abgeliefert hatte. „Der da saß auch bei mir und war ganz kleinlaut“, sagte er dann nur und guckte weiter.

Irgendwann, von einem Tag auf den andern, hörte er auf zu rauchen. Ohne dass es einen Anlass dafür gegeben hätte: Keine Diskussion um den ständigen Geruch, keine um die Gesundheit. Die hatte er alle erfolgreich durchstanden. Er hörte einfach auf, vielleicht, um damit zu überraschen. Heimlich mag er bereits länger daran gedacht haben, aber erzählt hat er es niemandem.

Als die Mauer fiel, fühlte er sich ein weiteres Mal betrogen. Im Krieg war er als Hitlerjunge freiwillig an die Front gegangen. Man habe ihn, sagte er nach 1989, „gleich zweimal verarscht“. Vielleicht hatte er das auch schon früher geahnt. Er konnte damit leben. Christian Domnitz

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