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Wirtschaft: Geb. 1931

Eva Zivier

Wichtig ist: Wachheit, sich selbst kennen, Kopf und Körper gleichermaßen.

Wiedergutmachung ist ein dummes Wort. Anmaßend angesichts der Gräuel der Vergangenheit. „Ich habe während des schrecklichen Krieges meine ganze Familie verloren, meine Frau, meine Schwester, alle anderen Verwandten auch…“ Diesen Brief des Großonkels ihres Mannes ließ sich Eva Zivier wieder und wieder vorlesen. Da saß sie bereits im Rollstuhl. Ein Schlaganfall hatte ihre Bewegungsfähigkeit und ihr Sprachvermögen schwer beeinträchtigt, sie aber nicht um ihren Verstand gebracht. „Prima“ und „Quatsch“ waren fortan ihre Lieblingsworte – das sei mehr, lobte der behandelnde Arzt, als die meisten Patienten in einem solchen Zustand vermögen: Gegensätze formulieren.

Jude – Nichtjude, es gab Menschen in Deutschland, denen diese Unterscheidung stets gleichgültig war. Auch während der Naziherrschaft. Eva Ziviers beste Freundin hatte einen jüdischen Vater, ebenso ihr zukünftiger Mann, der dem Glauben nach Protestant war, von Martin Niemöller getauft. Was half es? „Halbjude“, höhnten die Nazis und hätten den Zwölfjährigen interniert, wenn sie seiner habhaft geworden wären. Andere in der Familie hatten kein Glück, wie der Brief des Großonkels Salomon Goldschmidt bezeugt. Er und seine Familie hatten 40 Jahre in Eberswalde gelebt, ein Textilkaufhaus besessen, das wie so viele Häuser und Unternehmen gewaltsam enteignet, „arisiert“ wurde.

Natürlich hat Eva Zivier nach dem Krieg nicht deshalb Rechtswissenschaften studiert, weil sie ein unbändiger Gerechtigkeitssinn dazu trieb. Wie Hunderttausend andere Studenten dieses Faches vor und nach ihr suchte sie einen Brotberuf: Und wie viele vor und nach ihr litt sie, die sie sich den Künsten immer näher fühlte, unter der Paragraphenhörigkeit der Juristen und der intellektuellen Frühvergreisung mancher Kommilitonen. „Das muss ich jetzt zu Ende bringen!“ Der Durchhaltewille siegte. Und dann kam sie doch an die richtige Stelle: zunächst zu einem Anwalt, der auf Entschädigungsrecht spezialisiert war; dann in das Amt für Wiedergutmachung. Richterliche Befugnisse, hunderte Fälle, in denen die Schuld in kleiner Münze abbezahlt wurde. Später Richterin am Sozialgericht. Der Ort, an dem – frei nach Brecht – das immer gleiche Lehrstück aufgeführt wird: Die Reichen sind auf Ungerechtigkeit angewiesen, die Armen auf Gerechtigkeit.

Aber mit Formeln und Schlagworten hatte Eva Zivier nicht viel im Sinn; sie hätte stattdessen ein Bild gewählt: Der Staat ist ein Körper, anfällig für Krankheiten wie jeder andere Körper auch: Behäbigkeit lässt ihn brachliegen, Ideologien infizieren ihn, treiben bis zum Irrsinn.

Der Einzelne unterscheidet sich da nicht vom Ganzen. Deshalb gilt hier wie dort die ganz einfache Regel – Wichtig ist: Wachheit, sich selbst kennen, Kopf und Körper gleichermaßen, nur so können beide im Gleichgewicht gehalten werden. Natur in sich zu erlauben, ohne sich von ihr beherrschen zu lassen.

Eva Zivier hielt sich lebenslang an diese Vorgaben ihrer Atemlehrerin Frieda Goralewski. Das Selbstverständliche: Sensory Awareness. Einatmen, Ausatmen, sich ruhig halten, sich bewegen, ohne Hast. Eine Körperhaltung finden, die nicht schmerzt, weder einen selbst noch das Gegenüber. Wie krank, wie wenig im Gleichgewicht mit sich selbst viele Menschen sind, lehrt ein Blick auf unsere Gesten und Bewegungen. Eva Zivier achtete darauf, bei sich und bei anderen, ohne besserwisserisch bekehren zu wollen – obwohl die Atemlehrerin ihr, unverlangt, die Lehrerlaubnis erteilt hatte.

Sich im Tun mit sich selbst versöhnen, Gegensätze aushalten, das ist seit jeher Sache der Kunst. Eva Zivier liebte die vermeintlich kopflastig konstruktivistischen Maler gleichermaßen wie jene Komponisten, die Disharmonien nicht meiden, sondern aufzulösen vermögen. Und sie verehrte einen Virtuosen, der in seiner Person all das vereinte, was bei Genies gemeinhin als schwer vereinbar gilt: Talent und Charakter.

1929 spielte Yehudi Menuhin sein erstes Konzert in Berlin. Im Krieg gab er 500 weitere – für die alliierten Truppen. Er spielte kurz nach der Befreiung im KZ Bergen Belsen, und war dennoch der erste jüdische Musiker, der nach dem Friedensschluss wieder in Deutschland auftrat. 1998, ein Jahr vor seinem Tod, gab er sein letztes Konzert hier in der Stadt. Eva Zivier war dort, im Rollstuhl, ließ sich ein Autogramm geben.

Ihren größten Wunsch teilte sie ihrem Mann als testamentarischen Auftrag mit: dass in Berlin eine Schule oder eine Straße nach Yehudi Menuhin benannt wird.

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