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Wirtschaft: Geb. 1937

Ingrid Aulich

Womit sie früher eine ganze Zeitungsseite vollgeschrieben hatte, musste nun in zwei Minuten dreißig erzählt sein. Anfangs tat das weh, und irgendwann machte es ihr Spaß.

Die Kur nach ihrer ersten Krebsbehandlung verbrachte Ingrid Aulich zumeist mit dem Mikrofon in der Hand am Ostseestrand. Sie hatte ja bisher überall interessante Leute getroffen. Leute, die etwas zu erzählen hatten, das zu wertvoll war, um einfach nur gesagt und vom Wind davongeweht zu werden.

Seit sie Mitte fünfzig war, verließ Ingrid Aulich ihr Haus nicht mehr ohne Mikrofon. Es lag griffbereit in ihrem kleinen Honda, mit dem sie an jedem Montagmorgen von Köpenick nach Magdeburg fuhr und freitags am Abend zurückkehrte. Ihre Enkel nannten sie „die Auto-Oma“. Sie sahen sie nicht allzu oft, denn Oma war nicht die richtige Rolle für Ingrid Aulich.

An die Reporterstelle bei Radio Sachsen-Anhalt war sie eher unfreiwillig geraten. 35 Jahre lang hatte sie bei der „Tribüne“ gearbeitet, der Tageszeitung des DDR-Gewerkschaftsbundes. Sie war Chefreporterin, sie schrieb gern die großen Porträts auf der ersten Seite der Wochenendbeilage. Geschichten über verdiente Werktätige, Bestarbeiter oder einfache Menschen, deren Beruf ein Hauch von Abenteuer umwehte: Kapitäne zur See, Bergarbeiter, Wissenschaftler, Piloten.

Die gut 400 000 Gewerkschaftszeitungen wurden täglich in den größeren Betrieben der DDR verteilt. Folglich verschwand kurz nach der DDR auch die „Tribüne“. Ingrid Aulich schaffte den Sprung zur Nachrichtenagentur ADN, gewöhnte sich daran, kurz und sachlich statt lang und schön zu schreiben. Kaum hatte sie sich damit abgefunden, wurde sie entlassen, um künftig als freie Mitarbeiterin für viel weniger Geld mehr arbeiten zu müssen.

Einige Journalisten-Termine mied Ingrid Aulich nach Möglichkeit. Pressekonferenzen zum Beispiel, auf denen Leute, die schon immer alles genau gewusst hatten, die DDR aufarbeiteten. Die Journalistin hatte sich mit ihrem Land trotz aller Unzulänglichkeiten arrangiert und mochte nun nicht gegen ihre alten Überzeugungen anschreiben.

Während Berlin Hauptstadt wurde, versuchte sie ihr Glück im Regionalprogramm des Mitteldeutschen Rundfunks. Sie lernte, wie man mit dem Computer Tonbeiträge zusammensetzt, wie man bei Wind das Mikrofon am besten hält, sie trainierte die akzentfreie, akzentuierte Rede und gewöhnte sich an, Sätze radiotauglich zu verkürzen. Was in der „Tribüne“ eine ganze Seite füllte, musste nun in zwei Minuten dreißig erzählt sein. Das schmerzte, aber es ging. Und nach einer Weile machte es sogar Spaß.

Als ihr Sachsen-Anhalt zu klein wurde, machte sie sich auf die Reise. Ständig war sie unterwegs. Ihr Mann war 1988 gestorben, ihre drei Kinder längst aus dem Haus; niemand wartete jeden Tag auf sie. Wenn der Sohn in ihrer Berliner Wohnung die Blumen goss, musste er manchmal überlegen, ob die Mutter mit ihrem Mikrofon eigentlich noch in Rom oder schon in Mexiko unterwegs war. Er würde es erfahren, sobald man sich das nächste Mal am Wochenende auf der Familiendatsche bei Erkner sehen würde.

Auf diese Begegnungen freuten sich auch die Enkelkinder, die sonst so wenig von der Auto-Oma hatten. Die beiden waren etwa zu der Zeit geboren worden, als die „Tribüne“ starb und Ingrid Aulich sehen musste, wo sie blieb. Nun nahm sie sie manchmal dorthin mit, wo es ihr auf ihren Dienstreisen zuvor am besten gefallen hatte. Bei der Einschulung war sie natürlich auch dabei. Mit dem Mikrofon. Sie hat es einfach immer hingehalten und anschließend eine Reportage zusammengebastelt. Diesmal nicht fürs Radio, sondern für die Familie.

Als vor drei Jahren das dritte Enkelkind zur Welt kam, ein Mädchen, begann Ingrid Aulich gerade, ihren Rückzug aus dem Berufsleben zu planen. Für später, versteht sich. Sie zog aus ihrer zu groß gewordenen Plattenbauwohnung in einen Neubau ganz in der Nähe, in dem sie es auch aushalten würde, wenn sie mal mehr Zeit daheim zubrächte. An die Wohnung stellte sie die gleichen Anforderungen wie an ihre Arbeit: wenn schon, dann richtig. Also oberste Etage, ein Balkon nach Osten und einer nach Westen. Hier der Müggelwald, da der Fernsehturm am Horizont. Und der Fahrstuhl vor der Tür, der bis in die Tiefgarage des Supermarktes nebenan fährt. „Da kann ich zum Einkaufen die Hausschuhe anbehalten“, sagte sie. Ingrid Aulich freute sich auf die Jahre, die kommen würden. Wie sollte sie auch ahnen, dass sie als Nichtraucherin plötzlich Lungenkrebs bekommen würde.

Die Krankenschwestern im Klinikum Buch mussten sich damit abfinden, dass die Patientin abends manchmal nicht da war, weil sie ein Konzert oder Theaterstück besuchte. Tagsüber befasste sich Ingrid Aulich mit der Vergangenheit der alten Klinik. Sie fand, dass über das Krankenhaus bisher wenig berichtet wurde. In Gedanken hatte sie ihre Geschichte schon fast fertig.

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