zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Geb. 1937

Veronika Zander

Für die Freiheit sind Blasen an den Füßen der geringste Preis.

Das Fröhliche, Gutgestimmte im Menschen gedeiht nur, wenn eine ordnende Hand auf dem Seelenacker gelegentlich Unkraut jätet. Versteht sich eigentlich von selbst, aber manchen Trübsinnbläsern will es trotzdem nicht in den Kopf. Deshalb hier, exklusiv im Tagesspiegel: Das Leben der Veronika Zander, oder: Wie bleibe ich ein froher Mensch – trotz allem.

Beginnen wir im Krieg: Dreimal wurde die Familie ausgebombt. Zuletzt war alles weg, bis auf zwei Plüschtiere, die mitkamen in den Keller. Und das angekohlte Kinderbesteck, das sie aus dem Schutt fingerten. Weinen, viel weinen. Nachts die Angst vor den Sirenen, und der ständige Hunger. Wegen Unterernährung musste Veronika ins Krankenhaus. Die Vergangenheit war nicht von der Art, wie man sie sich wünschen würde. Diese Vergangenheit eignete sich besser zum Wegjäten. Also fort damit. Einfach nicht mehr dran denken.

So war Platz geschaffen für ertragreiche Kulturen: Jedes Programmheft vom Theater, jedes Püppchen aus dem Urlaub, jedes Buch erhielt im Fundus von Veronika Zander ein unbefristetes Aufenthaltsrecht. Diese Dinge waren schließlich Zeitzeugen aus den besseren Abschnitten des Lebens. Ganz wichtig waren die Fotoalben von den vielen Reisen. Zwölf Umzugskisten stehen noch gefüllt im Keller. Mit dickem Filzer ist der Inhalt grob umschrieben: China, Amerika, Mexiko, Tunesien, Bornholm, Italien, Moskau, Brüssel und so weiter. Zwischen den Fotos nüchterne Erklärtexte wie aus dem Baedeker. Wer einmal sein Urlaubsziel so nebenbei fallen ließ, bekam von Veronika Zander gleich das passende Album zur vorbereitenden Lektüre. Unermüdlich saugte sie Wissen auf. Das würde nicht verloren gehen, auch wenn die Zeiten wieder schlechter werden.

Veronika Zander kam aus dem Osten – im doppelten Sinne. Viele glauben, Ost und West hätte es erst nach dem Krieg gegeben. Dabei liest man schon bei Döblin, dass die Proleten im Osten und die Aristokraten im Westen wohnten. Irgendwie wurde Frau Zander dieses Gefühl nie los, eine aus dem Osten zu sein. In Prenzlauer Berg ist sie aufgewachsen, war Tochter einer Kosmetikerin und eines Tischlers. Ihren Kindern wollte sie das Gefühl, weniger wert zu sein, ersparen. Erste Lektion: Ihr dürft auf keinen Fall berlinern! Studieren sollt ihr, was erreichen im Leben. Und hinausgehen in die Welt.

Das viele Reisen – es war wohl auch eine Flucht aus den drückenden Verhältnissen. Zuerst wollte Veronika nur raus aus dem Osten, der sich gerade hinter einer Mauer verschanzt hatte. Eine Freundin aus Steglitz besorgte falsche Pässe. Veronika heiratete, und fühlte sich bald von einer neuen Mauer umgeben. Noch einmal brach sie aus, schnappte sich die Kinder und beerdigte ein weiteres Kapitel ihrer Vergangenheit. Endlich konnte sie tun, was sie wollte. Sie machte zum Beispiel den Führerschein.

Veronikas Tochter Sabrina erinnert sich an diverse Low-Budget-Reisen, etwa die Tour nach London: Eigentlich war Sabrina krank und wollte viel lieber zu Hause bei ihrem Freund bleiben. Aber die Mutter sagte: „Mit dem Auto brauchen wir drei Tage. Da kannst du dich auf die Rückbank legen und ausruhen.“ In London marschierten sie dann neun Stunden lang durch die Innenstadt. Busse waren zu teuer. „Es war so grausam“, sagt die Tochter. Veronika war in diesen Dingen unerschrocken. Für die Reisefreiheit sind Blasen an den Füßen der geringste Preis.

Freiheit ist ein hohes Gut, entschied Veronika. Deshalb durften ihre Kinder länger ausgehen als andere, jederzeit Freunde einladen – auch am Heiligabend. Da verplauderte man sich manchmal stundenlang und vergaß, den Weihnachtsbaum aufzustellen. „Bei Zanders steht die Tanne immer noch auf dem Balkon“, feixten die Nachbarn. Bald verliebte sich ein Mann in Veronika. Er machte ihr Geschenke, lud sie zu Reisen ein, trug sie auf Händen. Sie genoss es, blieb aber auf Distanz und wahrte ihre Unabhängigkeit.

Vor der Unfreiheit, davor, nicht mehr gehen zu können, ein Pflegefall zu werden, grauste ihr. Veronika litt an einer schweren Diabetes. Deshalb, und nur deshalb, kam der Tod zur rechten Zeit, sagt Sabrina. Ein Herzflimmern überraschte sie am letzten Tag des Jahres auf dem Weg in den Keller. Veronika legte sich auf den Boden und starb.

Noch ein Tipp für die Trübsinnbläser: Veronika Zander färbte ihre Haare, als sie 21 Jahre alt wurde. Von irgendwie braun nach hellblond. Diesen Farbton gab sie nicht mehr auf.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false