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Wirtschaft: Geb. 1956

Reinhold Lucas

Reinhold Lucas

Alle nannten ihn Lucas, Lucas war ihm lieber als Reinhold. Nichts Ungewöhnliches, wenn man Lucas eine Weile nicht in Berlin sah. Dann war er unterwegs mit seinem Mercedes Sprinter. Schon vor Jahren hat er sich den Kleintransporter gekauft, um Rockbands und deren Anlagen zu chauffieren. Lucas war Roadie. Deswegen häufig weg von zu Hause, auf Tour, on the road. Nichts Ungewöhnliches, wenn ihn die Nachbarn eine Weile nicht sahen. Dass diesmal die Fenster seiner Wohnung tagelang offen standen, hat sie ein bisschen gewundert.

Irgendwann Mitte der Achtziger war Lucas in West-Berlin aufgetaucht, aus dem Osten kam er, aus Sachsen. Hatte er einen Ausreiseantrag gestellt? Oder war er als politischer Häftling freigekauft worden? Jemand glaubt, sich zu erinnern, dass Lucas es mal so erzählt hat. Genau weiß das keiner mehr. Dass er die DDR abgrundtief gehasst hat, daran erinnern sich viele. Dass er den Waffendienst verweigert hatte, dass er „Bausoldat“ war, dass er Schwierigkeiten hatte deswegen, das hat er oft genug erzählt. Und dass sie ihn dann als Bauingenieur nicht mehr arbeiten ließen, dass er dann als Fahrer und Bühnenhelfer mit der DDR-Band Freygang unterwegs war, quer durch den verhassten Arbeiter- und Bauernstaat.

Und trotzdem kam er immer wieder ins Schwärmen. Über die wilde Zeit damals. Da standen die Mädels noch Schlange nach den Konzerten, um mit den Musikern und mit ihm, Lucas… Besonders gerne erzählte er von seinen Heldentaten in der Öffentlichkeit, in vollen Restaurants zum Beispiel. Er erzählte so farbenfroh, dass Unbeteiligte in der entferntesten Ecke noch rote Ohren bekamen. Im Westen war das später vielleicht nicht mehr ganz so wild, wie Lucas es gern gehabt hätte, das Rock’n’Roll-Leben. Aber schön war es immer noch. Immer unterwegs. Und ein bisschen vom Glanz der Musiker da oben auf der Bühne abbekommen. Dazugehören. Und Groupies gab es damals ja auch noch.

Im Quasimodo hatte er ein Konzert der Escalatorz gesehen. Sie hatten ihm gefallen, rau und ungehobelt, aggressiv, auch melancholisch, eben Rock’n’Roll. Und er hatte sie gefragt, ob sie jemanden bräuchten, einen wie ihn, einen, der ihre Anlage schleppt und aufbaut, und der sie zu den Auftritten fährt. „Backliner“ oder „Roadie“ nannte man den Job im Westen. Lucas musste sich erst gewöhnen an die ganzen neuen Ausdrücke, das englische Kauderwelsch der Bands. Um es schließlich mit Enthusiasmus umso häufiger anzuwenden. Es klang komisch aus seinem Mund, lauter sächsische Fremdkörper. Lucas stammte aus „Gorl-Morgs-Stodt, frior mol Gämmnitz“, wie er sagte. Jetzt war er in Berlin, im Westen, und fuhr die Rocknroller mit ihren „Ämmbs“ und „Dromps“, also ihrer ganzen „Päcklain“ zum „Kick“. Er arbeitete für die Band von Jocelyn B. Smith, die er „Tschösselienä“ nannte und für die Escalatorz, die „Esgelähdors“.

Er schleppte Kisten, belud den Bandtransporter, rollte Verstärker auf die Bühne, verkabelte Effektgeräte, baute Schlagzeuge auf, legte Handtücher an die Plätze der Musiker, stellte ihnen Getränke hin. Alles mit Konzentration und Hingabe. So sehr musste er sich konzentrieren, dass ihm dabei immer wieder die Zungenspitze zwischen den angespannten Lippen hervorrutschte und sich wie von Mundwinkel zu Mundwinkel bewegte. Perfekt wollte er alles machen, und das machte ihn wiederum nervös und fahrig, hektisch und ein bisschen uncool. Er kam auch heftig ins Schwitzen – vielleicht ein Grund, warum er mit der Zeit immer mehr alkoholische Erfrischungen zu sich nahm. Und Unmengen süßlich riechender Kräuter wegqualmte. Und immer wieder hatte er es schwer mit dem Magen. Heftige Schmerzen, Krämpfe.

Unmittelbar vor einer Tournee hat er sich das Knie gebrochen, musste an Krücken humpeln. Hatte keine Hand mehr frei, konnte nichts mehr schleppen, nicht mal Auto fahren. Auf die Tour haben ihn die Escalatorz trotzdem mitgenommen, haben ihn sogar voll bezahlt. Aus Solidarität vielleicht, aus Freundschaft, oder einfach, weil er längst dazu gehörte. Und jetzt stand er da mit kaputtem Knie und terrorisierte sie, gab Anweisungen, was sie zu tun hätten, wie der Bandbus zu fahren sei, schrie sie an: „Stop! Halt! Scheißescheiße! Alles zurück! Noch mal zurücksetzen!“ Er stand auf der Bühne, fuchtelte mit den Krücken in der Luft wie ein durchgeknallter Feldherr auf dem Schlachtfeld: „Halt! Falschfalsch! Der Ämp muss mehr zurück, Scheißescheiße!“ Bis einer von den Musikern zurückbrüllte: „Halt’s Maul, Lucas, und geh uns hier nicht auf den Sack!“ Da war er still.

Unterwegs kam es vor, dass er im Hotelbett plötzlich hochfuhr, kerzengerade im Bett saß und vor sich hinbrummte: „Scheißescheiße, alles falsch, alles zurück!“ Genauso plötzlich klappte er wieder nach hinten und schnarchte weiter.

Und dann das tägliche Ritual. Er schlurfte als letzter in den Frühstücksraum, verpennt, mit zottelig fettigen Haaren, Heavy-Metal-T-Shirt, schwarzer Fleece-Trainingshose, starrte missgelaunt über den Tisch. Keine Begrüßung, nichts. Stattdessen die eruptive Frage: „Gibt’s Eior? Habt’or alle schonn aufgefräss’n, hä?“ Jeden Tag dasselbe Theater. Lucas gehörte dazu. Und wenn eine Tournee vorbei war, war er tief traurig, litt am meisten von allen. Daran, dass es zu Ende war, dass er nach Hause musste.

Er war nicht gern zu Hause. Immer dieselben Kneipen, dieselben Typen. Und keine Groupies nirgends, kein Glanz, keine Bühne, kein Licht. Da wurde ihm schnell langweilig. Immer wieder hat er Bands gesucht, mit denen er losziehen konnte, „auf Duhr“. Aber das wurde immer schwieriger, die Zeiten änderten sich, es gab immer weniger Bands, die sich auf die Ochsentour durch die Musikclubs machten. Lucas begleitete zuletzt die australische Band Hugo Race und T.S.O.L. aus den USA.

Zwischendurch hat er immer wieder mal ein paar Monate in Australien verbracht. Nicht ungewöhnlich, fanden die Nachbarn, dass sie ihn schon eine Weile nicht gesehen hatten. Aber die offenen Fenster… Als die Polizisten die Wohnung öffneten, fanden sie Lucas in voller Bekleidung auf der Couch liegen. Er war schon seit einigen Tagen tot.

H.P. Daniels

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