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Wirtschaft: Geb. 1977

Alexander Nasr

Die Wüste kannte er gut, jeden Tag hatte der Wind ihren Sand in sein Kinderzimmer geweht.

Zweimal ist ihr das passiert. Sie stieg in die S-Bahn und wusste: Mein Sohn ist da. Sie fühlte es, irgendwie, als ob seine Stimme: Hi, Mum, zu ihr gesagt hätte, als ob er neben ihr stünde. Sie ging von Waggon zu Waggon, bis sie ihn gefunden hatte. Natürlich saß er da, in der Hand eine hebräische Grammatik und strahlte sie an, als er sie entdeckte. Was hatte das zu bedeuten? Überhaupt etwas? Eine Anekdote für gesellige Runden – stellt euch vor, was uns gestern passiert ist? Fast telepathisch – gibt es so was überhaupt?

Was bleibt, ist das Gefühl in ihr. Er ist ihr einfach besonders nah, ihr ältester Sohn Alexander. Das Leben hat Großes mit ihm vor. Warum hätte es ihm sonst so viel schenken sollen – die schöne Gestalt, den wachen Geist, die Fähigkeit, unermüdlich zu arbeiten? Tage und Wochen über Büchern zu sitzen, das macht ihm nichts aus. Mit Anfang 20 spricht er sechs Sprachen, studiert Jura, Arabistik, Politische Wissenschaften, Orientalisches Recht. Diplomat will Alexander werden, und keiner zweifelt daran, dass ihm das auch gelingen wird.

Das klingt so geradlinig, so, als habe er nicht rechts und nicht links geschaut, nur immer sein Ziel vor Augen. Mit seinen 24 Jahren hat er aber schon viel vom Leben begriffen. Geld, ein großes Auto, ein Schrank voll Kleider, darüber lacht er. Er hat eine Jeans und zwei Pullover. Familie, Freunde, Freiheit, das zählt. Ein Leben an einem Geländer, ein Leben voller Sicherheiten ist ihm ein Graus. Er reist durch die Welt mit ein paar Mark in der Tasche und dem Rucksack voll Konserven, er schleicht sich ins Adlon, am Portier vorbei, um die Wendeltreppe hinunter zu rutschen, lernt als Sohn eines Ägypters Hebräisch. Die echten Abenteuer kosten nicht viel. Nicht viel Geld jedenfalls.

Andere fahren zum Überlebenstraining in die Wüste. Die Wüste kannte er gut, jeden Tag hatte der Wind ihren Sand in sein Kinderzimmer geweht. In der Hafenstadt Djidda am Roten Meer, durch die Tausende von Pilgern nach Mekka strömten, war er aufgewachsen. Mit 17 stand er plötzlich in einer verregneten Vorortsiedlung bei Stuttgart und sollte das Abitur machen, weil die deutschen Schulen in Saudi-Arabien nach der zehnten Klasse endeten. Es ging ihm elend in dem fremden, kalten Land, das seins sein sollte. Es fehlte ihm das Haus voller Sprachen, in dem er Deutsch mit der Mutter, Englisch und Arabisch mit dem Vater gesprochen hatte, der kleine Bruder, die Eltern, die zunächst nicht mit ihm kommen konnten. Stattdessen nun die Stille der Rasenflächen und Reihenhaussiedlungen, das war gewöhnungsbedürftig. Aber er überlebte es, irgendwann gefiel es ihm sogar, er entdeckte die Kraft, die in ihm steckte, danach machte ihm fast nichts mehr Angst.

Er ging so furchtlos durchs Leben, dass es seiner Mutter ein wenig unheimlich war. Auch wenn sie sah, wie sich in den letzten Jahren vieles fügte. Die Familie traf sich endlich wieder in Berlin, Alexander stand kurz vor dem Abschluss des Studiums, er fand seine große Liebe. Wie hätte man dieses Glück schützen können?

Eine Woche türkische Riviera, Last Minute, schnell auf dem Nachhauseweg von der Uni gebucht. Sie freute sich für ihn, als er anrief, um Bescheid zu sagen. Ein paar Tage in die Sonne, mit der Freundin, ausspannen nach ihrem Examensstress. Alexander liebte die Türkei, war schon oft dort, sprach die Sprache fließend. Keine Angst Mum, diesmal keine Abenteuerreise. Das letzte Foto zeigt ihn vor dem Fluss Manavgat, im Hinterland von Side an der Riviera. Es ist der Vormittag des 11. April. Im Hintergrund des Fotos sieht man dunkle Wolken aufziehen. Und doch muss es ein schöner Tag gewesen sein. Perfekt für eine Schlauchbootpartie am Nachmittag – auf dem Manavgat, der berühmt ist für seine Wasserfälle.

Seiner Mutter geht es nicht gut an diesem Nachmittag des 11. April. Ohne Grund bricht sie an ihrem Schreibtisch weinend zusammen. Zu viel Stress, sagt sie sich, das Klima im Büro. Zu Hause im Bett macht sie den Fernseher an, der sonst oft wochenlang ausgeschaltet bleibt. In den Nachrichten sprechen sie von zwei Berlinern, die in einem türkischen Fluss verunglückt sind. Die junge Frau konnte sich ans Ufer retten, der Mann wurde vom Strom mitgerissen, bis zu den Wasserfällen, als er versuchte, zum Boot zurückzuschwimmen. Die Mutter weiß, dass das ihr Sohn war, lange bevor das Telefon klingelt.

Sie hat einen Satz des Propheten Mohammed auf einen Zettel notiert: Wenn Gott beschließt, dass ein Mensch an einem bestimmten Ort sterben soll, gibt er ihm einen Grund, dorthin zu gehen. Sie weiß nicht, was dieser Satz bedeuten soll. So oft sie ihn auch liest, er sagt ihr nicht, warum ihr Sohn nun sterben musste, mit 24 Jahren. Was sollte er am Manavgat? Heute warnen ein paar Schilder am Ufer die Touristen vor den Gefahren des Stromes. Dafür hat Alexanders Mutter gesorgt.

Kirsten Wenzel

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