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Geox-Gründer Mario Polegato: Die Luftnummer

Mario Polegato hatte eine Idee, die absurd klang. Er ritzte Löcher in seine Schuhsohlen, um trockene Füße zu bekommen. Daraus entstand das italienische Schuh-Imperium Geox. Heute will der ehemalige Winzer ein Vorbild sein – und jedem Menschen eine eigene Klimazone schaffen.

Ob es stimmt, dass die Welt in Gegensätzen zueinander findet? Mario Moretti Polegato wäre dieses Prinzip in einer Person, ein Mann, dessen Lebensthema die Luft ist. Aber er selbst hat nichts Windiges, Unstoffliches an sich. Ein großer, schwerer Mann von 61 Jahren und mit vollem dunklen Haar, der an diesem Spätnachmittag im Berliner Hotel Adlon ein wenig erschöpft ist und dadurch noch erdenschwerer in ein Fauteuil sinkt. In einer anderen Sprache als Italienisch zu reden, strengt ihn an. Und sogar Italienisch fällt ihm gerade schwer. Da sitzt einer, der sich nicht Luft machen kann.

Er möchte grünen Tee. Und er schlürft ihn energisch.

An diesem Tag hat Polegato schon mehr geredet, als er das normalerweise tut. Bei einem Wirtschaftskongress saß er neben Angela Merkel und Romano Prodi auf dem Podium, die Kanzlerin wollte von Polegato wissen, was er von der neuen Regierung in Rom halte – als einer der erfolgreichsten Unternehmer des Landes. Danach sprachen sie über die Krise Italiens, von der auch Polegatos Firma betroffen ist, aber das war in dem Moment nicht so wichtig. Polegato hat eine wunderbare Geschichte zu erzählen. Sie handelt vom Unternehmertraum schlechthin. Davon, eine Idee zu haben und sie umzusetzen. „Kennen Sie die Geschichte?“, fragt Mario Polegato.

Er könnte sie als bekannt voraussetzen, aber er zögert. Dann erzählt er sie gleich noch einmal. Wie er, der Italiener, 1992 in die Wüste von Nevada geriet. Wie er mit Turnschuhen in sengender Hitze glaubte, „wie auf Wasser“ zu laufen, wie er ein Messer nahm und sich Löcher in die Sohlen seiner Sneakers ritzte. Wie es weiter in ihm brütete.

Eigentlich hatte er ja nur die falschen Schuhe angehabt. Turnschuhe in der Wüste. Einem Mann von Welt wäre das vielleicht gar nicht passiert. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass dieses Problem noch ein paar mehr Menschen auf der Welt haben müssten und sich eine Lösung deshalb aufdrängen könnte. Heute verkauft Polegato 22 Millionen Schuhe im Jahr, seine Firma Geox ist zum zweitgrößten Schuhhersteller Europas geworden und hat ihren „Presidente“ mit einem vom „Forbes“-Magazin geschätzten Vermögen von 1,8 Milliarden Euro zu einem schwerreichen Mann gemacht. Der leidige Turnschuh steht in einer Vitrine der neuen Geox-Zentrale in Montebelluna. Und man muss genau hinsehen: Es sind kleine Löcher gewesen.

„Meine Geschichte ist einzigartig“, sagt Polegato mit dröhnender Stimme und schiebt seinen massigen Körper im Adlon an die Sesselkante. „Weil ich nur einen Einfall hatte und in ihn investiert habe. Es kostete mich wenige Jahre, um ihn in den globalen Markt einzuspeisen. Und das in einer Situation, in der es der Weltwirtschaft nicht gut ging.“

Der Erfinder der „Sohle, die atmet“, wie er sie selbst bewirbt, sonnt sich nicht in diesem Erfolg, indem er zu verstehen gibt, dass er ihn auch verdient habe. Seine Idee war absurd. Löcher ausgerechnet in dem Teil des Schuhs, der ihn trocken hält.

Darauf konnte nur ein Nicht-Gentleman kommen, jemand, dem es egal ist, zum Kulturfeind erklärt zu werden, weil er der hohen Kunst des Schuhmacherhandwerks den letzten Todesstoß versetzt. Seine Sneakers und die Welt der industriellen Gummisohle waren im wichtiger. Seither wird der Name von Mario Moretti Polegato vor allem mit Schweißfüßen in Verbindung gebracht.

Ist das fair?

Polegato wuchs zwischen schönen, edlen Dingen auf, der Familiensitz ist ein prächtiges Anwesen bei Treviso. Noch heute nutzt er einen Teil der Villa Sandi, erbaut 1622, privat. Und jetzt zeigt er auf Postkarten, die er aus einer Mappe zieht, dass von der Decke kristallene Lüster und schwere Gardinen hängen, die Perserteppiche und Möbel sind alt. Die Familie Moretti-Polegato ist Italiens bedeutendster Prosecco-Exporteur. Sieben Winzereien betreibt sie, auch der Vatikan wird beliefert. Über zwei Kilometer erstrecken sich unterirdische Weinkeller. Und was ist Prosecco anderes, als ein Wein mit eigenem Belüftungssystem?

„Mehr als Luxus schätze ich die Freiheit.“

Mario Polegato studierte Agrarwissenschaften, um die Familientradition weiterzuführen. Um Wein zu verkaufen, sagt Polegato, müsse man eine Geschichte erzählen können. Denn Wein sei mit dem Wetter verbunden, mit dem Klima und der Beschaffenheit des Bodens, die in den Weingärten seiner Heimat eine der besten der Welt sein soll. „Um Innovation geht es dabei nicht“, fügt er hinzu. Bis er zu jenem Weinbaukongress nach Nevada fuhr und seine Eingebung hatte. „Normalerweise werden solche Erfindungen in Labors gemacht. Aber manchmal hat auch ein einfacher Mensch wie ich dieses Glück. Ich hatte ein Problem, ich hatte dessen Ursache erkannt, also habe ich das Problem gelöst.“

Das hört sich ein bisschen schematisch an, doch genau so ist es gemeint. Mario Polegato vereinfacht die Entstehung seines Kernprodukts, der luftdurchlässigen Gummisohle, weil er seinen Zuhörern Hoffnung machen will. Polegato nennt es das „Spaghetti-Prinzip“. Eine Hausfrau, sagt er, die Wasser zum Kochen bringt, um darin Pasta zu garen, weiß, dass sie sich die Finger verbrennen wird, wenn sie das Wasser abgießen muss. Es sei denn, sie verändert den Topf. „Sie könnten das auch“, sagt er, „vielleicht haben Sie auch eine großartige Idee im Kopf.“

Polegatos Beschäftigung mit der atmungsaktiven Schuhsohle war zunächst allerdings ein eher dandyhaftes Vergnügen. Polegato suchte die Lösung für ein Problem, das er gar nicht hätte haben müssen. Es war ein theoretisches Problem. Aber wenn er es in den Griff bekäme, würde er eine universale Antwort haben, das stand für ihn fest. Polegato zitiert eine Statistik, nach der 90 Prozent der Menschheit sich auf Gummisohlen fortbewegen. Nur zehn Prozent tun dies auf Ledersohlen, die aufgrund ihrer Porenstruktur Feuchtigkeit aufnehmen, und diese wenigen würden viel Geld dafür ausgeben. Sie brauchten stets mehrere Paare, da die im Fußbett gespeicherte Feuchtigkeit einen Tag braucht, um wieder zu entweichen. Der rahmengenähte Schuh aus echtem Leder ist zwar ein ökologisches Produkt, da Rinds- oder Pferdehäute nachwachsen, aber das ficht Polegato nicht an. „Meine Schuhe sind intelligent“, sagt er, „das ist es, was die Leute an ihnen schätzen.“

Haben Sie ein Paar Lieblingsschuhe?

„Ja, dieses“, sagt er und schlägt ein Bein über das andere.

Es sind Geox-Schuhe, natürlich.

Das habe ganz praktische Gründe, meint er. Denn er sei viel unterwegs. Schwere Koffer mag er nicht. Aus Zeitgründen. An Gepäckbändern zu stehen und zu fürchten, dass die Sachen verschwunden sein könnten, sei vergeudete Mühe. Deshalb pflegt er mit Handgepäck zu reisen. Ein Schuhpaar muss da genügen, um in Südafrika ebenso gut auszukommen wie in Russland oder Indien. „Mehr als Luxus schätze ich die Freiheit, verstehen Sie?“

Das synthetische Produkt Gummi ist die Jederman-Ware für jede Gelegenheit. Und wenn sich aus Polegatos Freiheitsdrang eine Philosophie ableiten lässt, dann die, jedem Menschen eine eigene Klimazone zu geben. Ihn von der Unbill des Wetters und damit auch ein bisschen unsichtbar zu machen. Denn gewinnt der Mensch nicht erst im Kontrast zu dem, was er aushalten muss, an Kontur? Formen einen nicht vor allem die Widerstände? Und was sagt es aus über die 90 Prozent Gummisohlenträger, die eine Lösung für alles haben wollen?

Jemand, der Polegato öfter auf Reisen begleitet und von sich sagen kann, ihn gut zu kennen, erzählt, dass trotz der Tage, die sie gemeinsam in Flugzeugen, Hotels und bei Geschäftsterminen verbringen, nie ein privates Gespräch zustande komme. Polegato erkundige sich nicht nach Persönlichem. Und er rede nicht von sich. Im Adlon wird Polegato einmal seine Mutter erwähnen. Das ist das Äußerste an Privatem, was er sich zugesteht. Er sagt, dass er lieber „unerkannt“ bleibe und sich keiner Klasse zugehörig fühle. Er besitze kein Privatjet, keine Jacht. Ihm genüge ein VW Golf. Das Einzige, wovon er mehr besitzt, als er braucht, sind historische Motorräder der Marke Moto Guzzi. Ach, ja, zwei Lamborghini und einen Ferrari besitzt er auch. Abends treffe er sich mit Freunden in einer Trattoria am Ort.

Er sah sich mit einem Heer empörter Mütter konfrontiert.

Tatsächlich hat Polegato erst die Unwilligkeit der traditionellen Schuhhersteller zu einer in Italien berühmten Person gemacht. Denn die reagierten zunächst ablehnend auf seine Idee. Der Einkäufer eines Unternehmens, das ihm die Idee hätte abkaufen können, fragte, ob es wissenschaftliche Versuchsreihen gäbe. Die feinporige Membran gab es da bereits, die in Verbindung mit einer Gummisohle das Geox-Patent darstellen sollte, entwickelt von der Nasa. Polegato dachte, dass sich diese Dampfschleuse, die nur die Warmluft unter dem Fußbett nach außen befördern würde, vor allem für Kinderschuhe eignen müsste. Die seien stärker als jedes andere Schuhwerk Nässe ausgesetzt. Außerdem wusste er: „Um die Gesundheit der Kinder zu erhalten, investiert die Gesellschaft mehr.“

Drei Jahre versuchte Polegato, seine Inspiration bei großen Schuhfabrikanten unterzubringen. Er hatte keineswegs vor, sich aus dem Winzergeschäft zurückzuziehen. Also stellte Polegato fünf Studenten ein, nannte sie Manager und trieb das Projekt selbst weiter. Er kann den Zeitpunkt auf den Monat genau benennen. Vor 17 Jahren und sieben Monaten. „Ich wollte die Firma von Beginn an den Managern übertragen, ich bin keiner dieser für Italien typischen Entrepreneurs, die alles selbst machen wollen. Ich hatte schon begriffen, dass die Sache sehr groß werden würde.“

Bis 2008 steigerte Geox seinen jährlichen Umsatz auf 893 Millionen Euro. Dann war die Luft raus. Die Firma muss seither einen Umsatzrückgang von 10,7 Prozent verkraften. Die Wirtschaftskrise Italiens ist ein Grund dafür. Aber vor zwei Jahren bekam Geox auch Qualitätsprobleme. Die Schuhe würden nicht dicht halten, hieß es. Das einzige Argument, dessentwegen man einen Geox- Schuh kaufen sollte, wegen der trockenen Füße, drohte dem Unternehmen verloren zu gehen. Es sah sich mit einem Heer empörter Mütter konfrontiert. Und im Kampf um Reputation gibt es nichts Schlimmeres.

Polegato fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Er habe die Sohle erfunden, meinte er damals, wenn sie nicht funktioniere, habe er versagt. Es war die Kehrseite der Eine-Idee-Strategie. Es gab außer dem Versprechen, dass die Technologie funktioniert, kein zweites.

Jetzt fingert Polegato aus einem blauen Ordner einen ebenfalls blauen Karton, auf den sind drei Generationen der atmungsaktiven Membransohle geklebt. Sie sehen wie weiße Zungen aus. „Schauen Sie“, sagt er, und zuppelt an der Ursprungssohle. „Bei dieser einfachen Membran traten die Probleme auf. Mit einer doppellagigen Membran lösten wir das. Und jetzt haben wir eine Revolution in den Händen.“ Er streicht über die dritte Membran und murmelt: „Lebenslange Garantie“. Solche würden sie jetzt auch in Kleidung integrieren. Denn Polegato hat die Transpiration des menschlichen Torsos untersuchen lassen. Seine Leute fanden heraus, dass die Feuchtigkeit wie in einem Kamin am Körper aufsteigt und sich unter den Schulterstücken „wie unter einem Dach“ sammelt.

Aber Herr Polegato, das Dach hält jedes Haus trocken?

„Exakt.“

Und Sie durchlöchern das Dach?

Erschienen auf der Dritten Seite.

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