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Wirtschaft: Gerd Bauer

Geb. 1950

Patienten rieten ihm: „Jetzt gehen Sie mal in Urlaub, Herr Doktor.“ Wenige Monate nach Öffnung der Mauer reiste ein 37-jähriger Mann von Leipzig nach Berlin und stellte sich in einer HIV-Schwerpunktpraxis vor. Er zeigte auf einen gelb-weißlichen Belag an der rechten Zungenseite und fragte, ob das Aids sei. Die Befragung seitens des Arztes ergab, dass er sich Tage zuvor beim Genuss einer zu heißen Curry-Wurst in den Zungenrand gebissen hatte. Nun fürchtete er, sich über die Wurst angesteckt zu haben.

Die Aids-Hysterie war groß in den Achtzigern.

1983 wurde der Viruserreger isoliert; 1985 gab es den ersten Test. Damals lebten bereits neuntausend Infizierte in Berlin, zweitausend akut Aidskranke warteten auf Hilfe. Aber die mangelnde Kenntnis über die Krankheit schuf allenthalben Verwirrung und Widerstand. Eine Strafe Gottes orakelten viele – als sei das Risikospiel verseuchter Blutkonserven ein von der Vorsehung inszeniertes gewesen.

Krankenschwestern verweigerten die Pflege von Aidskranken, weil ihre Männer daheim den Geschlechtsverkehr verweigerten, aus Angst sich auf Umwegen anzustecken. Ärzte verschickten die Befunde per Post, weil sie die Panik der Patienten fürchteten, oder ihnen einfach die Worte fehlten. Patienten wiederum verweigerten die Behandlung, weil sie die Infektion nicht wahrhaben wollten: Ohne Diagnose keine Krankheit. Bis dann nicht selten Selbstmord als letzte Ausflucht vor der Wahrheit blieb.

Unzählige Tragödien. Proben wurden verwechselt, häufig wurden die Ergebnisse der ersten Probe von der zweiten widerlegt. Und selbst nach dem Tod dauerten die Dramen an: Angehörige flehten die Ärzte an, die wahre Todesursache doch bitte zu verschleiern.

Von den 70000 niedergelassenen Ärzten versorgten anfangs weniger als 100 den Großteil der Infizierten. Gerd Bauer war einer von ihnen, einer der Energischsten.

Zwei Schwerpunktpraxen baute er auf, eine in Charlottenburg, die andere im Wedding. Und das, obwohl anfangs kaum wirksam zu helfen war.

Das erste Medikament kam erst 1987 auf den Markt, Ende 1989 verlor Gerd Bauer noch immer jede Woche einen Patienten. Darunter Bekannte und Freunde. Das muss man ertragen können.

Von Statur her war er eine unauffällige Erscheinung, von dem schiefen Gang abgesehen und der etwas hängenden Schulter, Folgen eines schweren Autounfalls in jungen Jahren. Der Vater war früh gestorben, kein Elternhaus, in dem Praxis und Rotarymitgliedschaft vererbt werden, kein Halbgott im blütenweißen Kittel. Gerd Bauers Spezialgebiete: Hämatologie, Onkologie, Krebs und Blut.

Er sammelte Kunst, reiste selten, aber gern, war ein Zyniker in Maßen, ein temperierter Genussmensch, Koch aus Leidenschaft, und eben Arzt mit Leib und Seele.

In seiner Praxis hing ein sehr dunkles Bild, Hinterhof, Wedding, das erinnerte an die Verlierer des Lebens, und an die Gewinner erinnerte ein Blumenbild, eine große Wiese an einem Sommertag, viel zu schön, viel zu unberührt, um sich darauf niederzulegen.

Ärzten, die so viel zu tun haben, geht es gut; Gerd Bauer liebte feine Anzüge, gute Weine, seine Küche war vom Besten. Aber ihm blieb nicht viel Zeit, sich darin aufzuhalten. Ärzte, sofern sie denn ihren Beruf als Berufung verstehen, taugen selten als Partner. Die Scheidungsrate ist groß, desgleichen die Suchtgefahr, die Lebenserwartung niedrig. Unter dem Gesundheitsaspekt ist niemandem zu raten, Arzt zu werden.

Denn da sind vor allem die Kleinigkeiten, die nerven, der Schriftverkehr mit den Kassen, der Kleinkrieg gegen den medizinischen Unverstand der Ämter, denn dauernd fehlte Geld für die Patientenversorgung. Und manchmal hilft eben nur ein neuer Teppichboden, um einen chronischen Harnwegsinfekt zu heilen: Auslegware gegen Attest.

Wie viele Patienten kann ein Arzt am Tag versorgen, ernsthaft umsorgen? Zahlen gibt es nicht, nur die Gewissheit: Es werden immer zu wenig sein.

„Der hat sich immer Zeit genommen“, lobten die Patienten.

Deswegen kam er nicht selten zu spät, deswegen war der Schreibtisch stets übervoll. Er rieb sich auf, im Glauben, sich alles abverlangen zu müssen; aber es gibt ein osmotisches Gesetz, das gilt auch zwischen Arzt und Patient: Man darf nie zu durchlässig werden für die Sorgen anderer.

Er hat zuweilen zu wenig Grenzen gesetzt, hätte geschäftsmäßiger auftreten müssen, um den Vampireffekt zu vermeiden.

Gelegentlich ist er vor Patienten eingeschlafen. Die tätschelten ihm dann die Schulter und rieten wohlmeinend: „Jetzt gehen Sie aber mal in Urlaub, Herr Doktor!“ Natürlich folgte er dem Rat nicht.

Viel verbreiteter als Aids, und kaum weniger gefährlich, ist die Viruserkrankung Hepatitis C, gerade in Krankenhäusern und Arztpraxen besteht ein erhöhtes Ansteckungsrisiko.

Gerd Bauer kannte sein Berufsrisiko, er scheute es nicht. Und er starb daran.

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