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Wirtschaft: Gerhard Emig

Geb. 1926

Schublade auf, Schublade zu. Wer wird denn an Erinnerungen verzweifeln? Erinnerungen sortierte er wie Fotos. Gute wurden gezeigt, die schlechten in eine Schublade gesteckt und nur in Ausnahmefällen hervorgekramt. Die Kriegsgefangenschaft? Unter der gleißenden Sonne New Mexicos habe er Melonen gegessen. Und sehr lustig ausgesehen, als er heimkam, weil die Arme und Beine so weit aus der alten Uniform ragten.

Wie das war, damals im Kugelgewitter an der französischen Front, das hat er nicht mal seiner Frau erzählt. Und auch nicht, was er während der viereinhalb Jahre Einzelhaft in der DDR erlebte, die ihm seine Tätigkeit im Liberalen Studentenbund eingebracht hatten. An diesen Erinnerungen haftete nichts Gutes – also ab in die Schublade. 1956 war er nach Berlin gekommen, und damit war das Kapitel Osten für ihn passé. Dass man Erinnerungen im Gegensatz zu alten Fotos nicht einfach wegwerfen kann, merkte seine Frau nur, wenn sie durch die DDR fahren mussten. Da raste ihr Mann in einem Stück durch, und für die Kinder lag ein Nachttopf auf dem Rücksitz.

Im neuen Leben in West-Berlin lief es nicht immer glatt. Direktor in der Senatsverwaltung für Bundesangelegenheiten sollte der FDP-Mann Emig 1969 werden, so hatte es der Berliner Landesausschuss beschlossen. Ein wichtiger Posten in der Mauerstadt. Die SPD lehnte ab: zu links, hieß es. Vielleicht lag es auch daran, dass Emig Sätze sagte wie: „Wenn man einen Sack hinstellte und SPD draufschriebe, der würde gewählt.“

1975 sollte Emig Schulsenator werden, beschlossene Sache war das eigentlich. Doch plötzlich wurde wegen des Verdachts auf Bestechung gegen ihn ermittelt. Die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos, das Verfahren wurde eingestellt. Da waren die Senatoren längst gewählt. Und Emig wurde wieder, wie schon sechs Jahre zuvor mit dem Posten des Staatssekretärs für Verkehr getröstet.

Schublade auf, Schublade zu, was soll man daran verzweifeln? Er hatte zwei Kinder, seine Frau, die Bergsteigerbücher von Messner und Sir Edmund Hillary. Und er konnte sich auch für Verkehrsprojekte begeistern. Für die Magnetbahn zum Beispiel, die er so gerne über den Berliner Straßen schweben sehen wollte. Im Vergleich zu den früheren Schlägen fühlten sich die Niederlagen eines West-Berliner Politikers an wie kleine Knuffer.

Ausgerechnet Gerhard Emig wurde nach dem Mauerfall angetragen, kommissarischer Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen zu werden. Schließlich hatte er da gesessen und war jetzt pensionierter Verwaltungsprofi. Er überlegte lange – und sagte Ja. Und: „Wenn Sie mal Ärger kriegen, mit dem, was ich tue, können Sie ruhig sagen, das ist der blöde Emig gewesen.“ Wenig später stand in dem ehemaligen Konzentrationslager, das in der DDR vor allem Kultstätte kommunistischer Heldengeschichten war, ein neues Schild. Am Gedenken derer, die nach 1945 in Sachsenhausen gelitten hätten, werde gearbeitet. Und mitten drin: „DDR-Unrechtsstaat“. Mangelndes Fingerspitzengefühl tadelten die einen, er nehme kein Blatt vor den Mund lobten die anderen. Er lasse seine antikommunistische Wut an der Gedenkstätte aus, empörten sich die Mitglieder von Opferverbänden.

Gerhard Emig ließ sich nicht beirren. Rumpelte jeden Tag mit seinem Auto übers Kopfsteinpflaster zur Gedenkstätte hin und jeden zweiten stand er unangemeldet im Büro des brandenburgischen Kulturministers. Bald war ein Gedenkstein für die Opfer des sowjetischen Internierungslagers aufgestellt, eine Sonderausstellung wurde geplant, und man begann, Massengräber aus der Zeit nach ’45 freizulegen. Das „Museum des antifaschistischen Freiheitskampfes der europäischen Völker“, in dem Stalin und Honecker von den Wänden lächelten, schloss Emig kurzerhand.

Als er noch Politiker war, hatte man ihm das Bundesverdienstkreuz angeboten, er lehnte ab: „Ich werde für meine Arbeit schließlich bezahlt.“ Als ihm der Orden nach der Zeit in Sachsenhausen erneut angeboten wurde, sagte er Ja. Dass da erneut wütender Protest aufloderte, störte ihn nicht – „Dann will ich’s erst recht.“

Anne Seith

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