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Wirtschaft: Gerhard Meißner

(Geb. 1932)||Er konnte gar nicht aufhören mit dem Weitermachen.

Er konnte gar nicht aufhören mit dem Weitermachen. Er nahm sein Stethoskop, den Rezeptblock, den Blutdruckmesser und zog los zu den Bauern. Eine Landarztpraxis für 22 Dörfer. Weil die Einsatzorte in Oberbayern lagen, sprachen die Menschen auch oberbayerisch. Zum Dolmetschen kam manchmal Amalie mit, eine Ortsansässige, die er mal in einem Gewitter nach Hause gefahren hatte. Die Fahrt dauerte länger als Fahrten durch Gewitter gewöhnlich dauern. Amalie wurde seine Gehilfin und später seine Frau.

In Oberbayern kann man sich mit etwas Phantasie vorstellen, in Thüringen zu sein. Deshalb war Gerhard Meissner nach seinem Studium in Berlin dorthin gegangen, für anderthalb Jahre. Thüringen war die verlorene Heimat. Sie waren dort herausgemobbt worden. Früher sagte man: schikaniert und gedemütigt. Für die Kommunisten war sein Vater, ein Studienrat, ein Feind der Arbeiterklasse. Gerhards älterer Bruder wurde verschleppt und kam nie wieder. Es war offenkundig, dass die Machthaber Gerhard nicht Medizin studieren lassen würden. Er ging nach West-Berlin, wo sein Vater bereits eine neue Anstellung gefunden hatte. Beim Umzug schmuggelte er Rilke-Bücher aus der „Bibliothek Schleitz“ im Waschkrug über die Sektorengrenze.

Literatur hatte er schon als Kind wie eine süße Speise genossen. Lesestoff gab es reichlich in der Bibliothek des Vaters. Mit acht Jahren erklärte er stolz seiner großen Schwester, er habe von einem sehr interessanten Zeitgenossen erfahren, einem gewissen Mestifoles. Gemeint war Mephistopheles. Gedankenreisen waren ihm auch später die liebsten. Körperlich zog er es vor, zu Hause zu bleiben, umringt von seiner Familie und den Klassiker-Gesamtausgaben.

Mit seinem Charakterkopf hätte Gerhard zum Fernsehen gehen können, als Samstagabendmoderator, der nach jeder Sendung zur Feder greifen muss, um entflammte Frauenherzen zu besänftigen. Dabei war er gar nicht der Casanova-Typ. Und das Fernsehen irritierte ihn. Bei einer Diskussionssendung zur Reform des Gesundheitswesens hatten sie ihn eingeladen, doch Gerhard schwieg die meiste Zeit, und sein Anliegen verkümmerte.

Erfolgreicher war er im Zwiegespräch mit Patienten. Zu ihm kamen die Beladenen, die keinen Apparatespezialisten für Herz und Kreislauf suchten, sondern einen Arzt, der für sie Interesse zeigte. Aus Patienten konnten Freunde werden, besonders dann, wenn sie über ein profundes literarisches Wissen verfügten.

Gerhard Meißner besaß nicht nur viele Bücher, er wusste auch aus dem Stegreif, was drinsteht. Weil er tagsüber nicht dazu kam, las er nachts, so zwischen ein und drei Uhr. Auf die Idee, selber zu schreiben, verfiel er nicht. Er arbeitete lieber für den Menschen, der ihm gegenübersaß. Zwei Doktorarbeiten liegen unvollendet im Keller seines Hauses. Jedes Mal war der betreuende Professor verstorben, bevor er das Werk würdigen konnte. Gerhard Meißner betrachtete es als höheres Zeichen, und nahm von der wissenschaftlichen Arbeit Abstand.

Nachdem er die eigene Praxis in Friedenau aufgegeben hatte, ging das Praktizieren weiter. Patienten riefen ihn zu Hause an, und Gerhard, der schon immer schlecht „Nein“ sagen konnte, sagte jedesmal: „Ja, ich komme.“ Wenn seine Frau nicht das Telefon bewachen konnte, nahm er es mit hinaus zur täglichen Gartenarbeit. „Guten Tag, liebe Frau S.. Sie erwischen mich gerade auf dem Apfelbaum. Was haben Sie auf dem Herzen?“

Was machst du dir das Leben so schwer?, fragte Amalie, aber Gerhard konnte nicht aufhören mit dem Weitermachen. Was soll man denn den Patienten sagen? Sie hätten es bestimmt nicht verstanden. Als er im Sterben lag, weil sein Herzschlag sich erschöpft hatte, haben sie leise protestiert.

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