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Wirtschaft: Gerhard Melzer

(Geb. 1939)||Er erregte den Verdacht: Ironie muss was mit Bildung zu tun haben.

Er erregte den Verdacht: Ironie muss was mit Bildung zu tun haben. Er wusste, dass DocMe ihn mochte. Es tat ihm selber leid, dass er jetzt ohne Hausaufsatz zur Schule ging. Die Faulheit hatte mit ihren sanften Armen nach ihm gegriffen. Er hatte sich gewehrt, er hatte sie gegen das Schienbein getreten, umsonst. DocMe, wusste er, würde nicht laut werden, das hat er noch nie getan; wahrscheinlich konnte er das gar nicht. Nur eine leise Enttäuschung würde in seinem Gesicht stehen, und das war noch viel schlimmer. DocMe würde ihm eine Sechs geben müssen, und es würde ihnen beiden wehtun, dem faulen Schüler Frank und DocMe, der eigentlich Doktor Gerhard Melzer hieß.

Viel später, als aus dem faulen Schüler Frank der Germanistik-Student Frank geworden war, hat er in der Unibibliothek DocMe’s Dissertation gefunden: „Der Nörgler und die Anderen. Zur Anlage der Tragödie ,Die letzten Tage der Menschheit’ von Karl Kraus“. Melzer mochte die leisen, bösen Spötter, die Ironiker. Er war selber so einer. Darum ist er Frank und seinen Freunden überhaupt aufgefallen. Äußerlich war DocMe unscheinbar, so unscheinbar wie alle Menschen über dreißig wirken, wenn man gerade siebzehn ist. Aber DocMe hatte diese Ober-, Unter- und Nebentöne. Und dunkel ahnten Frank und die anderen, dass Ironie etwas mit Bildung zu tun haben muss.

Frank wartete auf seine Sechs und den enttäuschten Blick des Lehrers. Melzer ist gerecht, fanden alle, auch die faulen Begabten. Dann geschah es. Melzer schrieb die Sechs hinter Frank Lüdeckes Namen in sein kleines schwarzes Notizbuch, schaute noch einmal auf und sagte diesen Satz, der Frank Lüdeckes Leben ändern sollte: Falls du bis Montag einen guten Text für unser Schulkabarett geschrieben hast, streiche ich die Sechs!

Frank dachte nach. Kabarett? Es wurde Sonnabend. Die Faulheit hockte träge neben ihm auf dem Sofa, aber als sie einen Augenblick nicht aufpasste, lief Frank weg – in die Bibliothek. Er brauchte Bücher über Kabarett, er las etwas von der Münchener Lach- und Schießgesellschaft, das hieß „Der Abfall Bayerns“. Was ist so lustig am Müll anderer Leute ?, dachte er zuerst. Dann verstand er es. Da war sie wieder, die Melzersche Doppelsinnigkeit. Am Sonntag merkte Frank gar nicht, dass Sonntag war, denn er versank in einem Schaffensrausch.

Am Montag aber glaubte er zum ersten Mal nicht mehr an die höhere Gerechtigkeit seines Lehrers. Dass DocMe die schlechtesten Zensuren an der ganzen Schule gab, irritierte keinen, denn das gehörte zur Gerechtigkeit. Doch jetzt besah er den Text, nickte langsam und sagte dann zu Frank: „Und nun musst du das nur noch spielen!“ Das war nicht verabredet! Text gegen Sechs war verabredet, mehr nicht. Das war ein klarer Fall von Erpressung. Sie fand statt im Jahr 1978.

Das Abitur rückte nahe. Leider fand Frank Lüdecke keine Zeit, sich darauf vorzubereiten, aber das lag nicht an der Faulheit, im Gegenteil. Zum Abitur gehörte die Abschlussfeier, und da würde sein Schulkabarett „Die Phrasenmäher“ auftreten. DocMe war der Kabarett-Chef. Als Frank Lüdecke im Abschlussapplaus unterging, hatte er das undeutliche Gefühl, dass es keinen besseren Platz auf Erden gäbe als eine Kabarettbühne.

Frank Lüdecke ging nun nicht mehr auf die Waldschule, aber die „Die Phrasenmäher“ mähten fortan an vielen Berliner Schulen, gastweise. Sie wurden zum Studentenkabarett. Gerhard Melzer bekam für jedes neue Programm eine Einladung. Er versäumte keins. Und dann kam die „Phrasenmäher“-Premiere am Kreuzberger Hoftheater. Frank Lüdecke weiß es wie heute, weil er seinen Lehrer unter einem Restlächeln tief erbleichen sah. Der Diplom-Germanist Frank Lüdecke hatte DocMe seinen Entschluss mitgeteilt, nun hauptberuflich Kabarettist zu werden. Im Lehrergesicht, fahl-grau wie der Herbsthimmel, stand stumm ein einziger Satz: Das habe ich nicht gewollt, kein Menschenopfer! Er sah Lüdecke frierend, allein und mittellos unter einer Brücke sitzen, und er, Gerhard Melzer, war schuld.

Der Mensch ist sein eigenes Risiko, schon wahr. Melzer verstand das doch. Er hatte einst genauso entschieden. Der Sohn eines Polizisten aus Prenzlauer Berg hatte bereits am dritten Tag seiner Lehre am Arbeitsamt Berlin gewusst: Hier bin ich falsch! Das war 1955. Das Leben ist zu kurz, um nicht aufs Ganze zu gehen. Er würde sein Dasein, das wusste er jetzt, der Literatur widmen. Dem gedruckten Buchstaben an und für sich, insofern er sich nicht auf einem Formular befindet. Nur: Der Viel-Leser Gerhard Melzer hatte kein Abitur, was vor allem daran lag, dass niemand von denen, die er kannte, Abitur hatte, und seine Eltern kannten auch niemanden mit Abitur. Tagsüber blieb Melzer Lehrling am Arbeitsamt Berlin, abends holte er sein Abitur nach. Und wurde irgendwann DocMe, der Gerechte, der Kraus-Doktor, Lehrer an der Waldschule Charlottenburg. Lehrer zu werden, ist ein noch eben kalkulierbares Lebensrisiko. Aber Kabarettist?

Immerhin, die Premieren-Adressen deuteten darauf hin, dass der schlimmste Fall noch nicht eingetreten war. Lüdecke trat im Fernsehen auf, er spielte bei den „Wühlmäusen“. Die „Wühlmäuse“ waren nur einen Steinwurf entfernt von der Waldschule. Zwei große Kabarett-Orte mit W vorn. War das ein Zeichen? Gerhard Melzer wurde ruhiger.

Ein paar Wochen vor seiner Pensionierung sagte er zu seiner Frau: „Du, ich glaube, ich gehe heute nicht in die Schule!“ Frau Melzer erschrak. Noch nie hatte sie einen solchen Satz von ihm gehört. Ihre Silberhochzeit mussten sie auf der Klassenfahrt nach Prag feiern.

Am selben Vormittag, als Frank Lüdecke erfuhr, dass sein früherer Lehrer schwer krank war, hielt er die CD mit seinem neuesten Programm in den Händen. Er schickte sie weiter an DocMe. Mit Boten. Sie erreichte den Lehrer noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Als er aufwachte nach der Krebsoperation hörte er sie, immer wieder. Die Stimme seines Schülers holte ihn zurück ins Leben. Dass es ein vorläufiges Leben war, ahnte Melzer. Der Lehrer und sein Schüler schrieben sich Briefe, drei Jahre lang. Um sich besuchen zu lassen, sei er noch nicht gesund genug, schrieb Melzer. Lüdecke verstand es sofort. Es passte zu DocMe. Dieses unlöschbare Moment von Distanz, das ihn früh fasziniert hatte. Das dem Witz erst seine Kontur gibt. Und das Nähe um so fühlbarer macht, manchmal. Aber zur Premiere deines „Distel“-Programms komme ich, versprach der Lehrer. Gerhard Melzer hat es nicht mehr geschafft.

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