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Gesundheit: Das wackelige System der Krankenkassen

Niemand will die Alten und Kranken. Nach der Insolvenz der City BKK scheint das gesamte Kassensystem zu schwanken. Die Angst vor weiteren Pleiten ist groß.

Die Nachricht vom Bankrott ihrer Krankenkasse war für die 168.000 Versicherten der City BKK ein Schock: Zum ersten Mal in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung hat eine Kasse Insolvenz angemeldet. Die Rechtslage ist eindeutig: Die Versicherten können zu einer Kasse ihrer Wahl wechseln. Doch in der Praxis erleben vor allem Rentner in diesen Tagen eines: Andere Kassen versuchen sie abzuwimmeln.

Kommt mit der Insolvenz der City BKK das gesamte System der gesetzlichen Krankenkassen ins Wanken?

Manche behaupten das. Nach der City BKK steht mit der BKK für Heilberufe die nächste Kasse vor der Insolvenz. Und der Chef der Krankenkasse KKH-Allianz, Ingo Kailuweit, warnt vor „Rutschbahneffekten“. Er meint damit, dass wegen der Unterfinanzierung durch den Gesundheitsfonds immer mehr Kassen Zusatzbeiträge verlangen müssen, aufgrund derer sich dann vor allem junge und gut verdienende Mitglieder andere Versicherer suchten. Das führe zu weiteren Insolvenzen, für deren Kosten die verbliebenen Kassen geradezustehen hätten – was ihnen dann womöglich wieder nur mit Zusatzbeiträgen gelinge. Ein Teufelskreis.

Andere sehen in der ein oder anderen Kassenpleite eine normale und auf lange Sicht sogar wünschenswerte Entwicklung. Schließlich, so argumentieren sie, brauche man angesichts des weitgehend vorgegebenen Leistungsspektrums nicht so viele Kassen wie Joghurtsorten, 40 bis 50 täten es genauso. Zum einen spare das Verwaltungskosten und Vorstandsgehälter, zum anderen wären größere Kassen robuster. Was der City BKK den Hals gebrochen und der Vereinigten IKK jetzt Zusatzbeiträge beschert hat, war ja deren Konzentration auf Versicherte in teuren Städten und das Fehlen einer, wie es so schön heißt , „gesunden“ Mischung.

Was unterscheidet das heutige vom früheren Kassensystem?

Es sind vor allem die beiden großen „W“: Wahlfreiheit und Wettbewerb. Im Oktober 1992 einigten sich Horst Seehofer (CSU) und Rudolf Dreßler (SPD) bei einem inzwischen legendären Treffen im rheinischen Lahnstein auf die freie Kassenwahl für alle Versicherten. Bis dahin war ihnen die Kassenart nach Beruf und Arbeitgeber verordnet worden: Die Arbeiter mussten in die AOK, die zuständige Betriebs- oder Innungskrankenkasse, für Angestellte gab es die Ersatzkassen – und selbst dort wurde spezifiziert, wie die Namensgebung etwa der Techniker Krankenkasse belegt. Dieses Pflichtkassenprinzip erwies sich aber als zunehmend problematisch. Zum einen bedeutete es Ungleichbehandlung, die man nicht länger akzeptieren wollte. Zum anderen gerieten die Arbeiterkassen immer stärker in finanzielle Schieflage. Wegen der steigenden Zahl von Angestellten blieben den Basisversorgern vor allem die Schlechtverdiener mit den hohen Krankheitsrisiken.

Um den neuen Wettbewerb nicht überborden zu lassen, erfanden Seehofer und Dreßler auch gleich einen Ausgleichsmechanismus. Ohne dieses Korrektiv, das wussten die Sozialpolitiker schon damals, würden sich alle Kassen nur noch um junge, gesunde und gut verdienende Kunden mühen. Und diejenigen, die ihre Alten und Kranken nicht losbekämen und womöglich sogar gut versorgten, wären die Dummen. Allerdings war der Risikoausgleich anfangs sehr grob. Betriebs- und Technikerkassen kamen mit niedrigeren Beiträgen klar.

Was haben die Reformen des Krankenkassensystems bislang gebracht?

Aus muffigen Schalterhallen mit unfreundlichen Sachbearbeitern wurden kundenorientierte Service- oder flotte Onlinecenter. Und die Zahl der Kassen hat sich spürbar verringert. Während es 1995 noch 960 Versicherer gab, sind es heute nur noch 155. Die freie Kassenwahl bescherte der Branche eine Fusionswelle, vor allem reduzierte sich die Zahl der Betriebskrankenkassen. In fünf Jahren werde es nur noch etwa 100 Kassen geben, prophezeit der Essener Gesundheitsökonom Jürgen Wasem.

Von der Möglichkeit, sich eine neue Kasse zu suchen, machten jedoch längst nicht alle Gebrauch. Und das, obwohl die Preise für die Gesundheitsversorgung vor Einführung des Einheitsbeitrags im Jahr 2009 durchaus unterschiedlich waren. Damals reichte die Spanne von 12,7 Prozent bei der günstigsten Kasse bis 17,4 Prozent bei der City BKK – bei einem Bruttoeinkommen von 3000 Euro eine Differenz von monatlich 141 Euro. Womöglich werden die Versicherten aber preisbewusster: Früher fielen Beitragsunterschiede auch deshalb nicht so auf, weil sie direkt vom Gehaltskonto abgebucht wurden. Die einkommensunabhängigen Zusatzprämien, welche die Kassen nun zunehmend erheben, müssen die Betroffenen dagegen selbst überweisen.

Was hat sich für Versicherte geändert?

Sie können wählen, ob sie sich lieber bei einer großen Kasse mit vielen Zweigstellen versichern – oder bei einer kleinen BKK, die überwiegend telefonisch oder übers Internet erreichbar ist.

Trotz des Wettbewerbs geben die Kassen nicht weniger Geld aus. Während 1995 die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung laut Statistischem Bundesamt bei knapp 112 Milliarden Euro lagen, waren es 2010 rund 176 Milliarden Euro. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt blieb in diesem Zeitraum allerdings konstant bei rund sechs Prozent. Das Problem der Kassen sind weniger die steigenden Kosten, sondern der Umstand, dass ihnen in den vergangenen Jahren die Einnahmen weggebrochen sind – auch weil es immer mehr Jobs gibt, die nicht sozialversicherungspflichtig sind.

Für die Versicherten ist absehbar, dass für sie Gesundheit teurer wird. Künftige Kostensteigerungen müssen sie alleine tragen, da Schwarz-Gelb den Arbeitgeberbeitrag eingefroren hat. Seit der Einführung des Gesundheitsfonds 2009 gibt es einen einheitlichen Kassenbeitrag, der heute bei 15,5 Prozent des Bruttoeinkommens liegt. Der entscheidende Unterschied zu früher: Wenn eine Kasse nicht mehr mit ihrem Geld auskommt, wird nicht der allgemeine Beitragssatz angehoben (also auch der Anteil der Arbeitgeber), sondern die Kasse muss von ihren Versicherten einen Zusatzbeitrag erheben – und zwar in Form einer einkommensunabhängigen Pauschale.

Gibt es tatsächlich Wettbewerb?

Nur eingeschränkt. Derzeit läuft der Wettbewerb vor allem über die Zusatzbeiträge. Als 2010 die DAK und die KKH-Allianz als erste große Kassen eine monatliche Prämie von acht Euro verlangten, verloren sie massiv Versicherte. Der von der Politik viel beschworene Wettbewerb um die beste Versorgung ist hingegen kaum sichtbar. Welche Unterschiede es bei den Leistungen gibt, können die Versicherten nur schwer überblicken. Den Pflichtkatalog gibt ohnehin die Politik vor, angefangen von der Höhe des Krankengelds bis zur Hüftgelenks-Operation. Profilieren können sich die Kassen über ihren Service und über freiwillige Leistungen, wie etwa die Bezahlung von Sportkursen oder Akupunktur. Doch gerade bei diesen Leistungen setzen die Kassen in letzter Zeit verstärkt den Rotstift an. Sie wollen so lange wie möglich Zusatzbeiträge vermeiden. Denn dann droht eine gefährliche Spirale: Mit Zusatzbeiträgen ist die Gefahr groß, dass gerade gebildete Gutverdiener zur Konkurrenz wechseln und nur die Alten und Kranken bleiben.

Kann eine Kasse auch über die Runden kommen, wenn sie viele ältere und kranke Versicherte hat?

Grundsätzlich ja. Wie viel Geld eine Kasse heute aus dem Gesundheitsfonds erhält, richtet sich nicht nur nach der Zahl der Versicherten, sondern auch nach Alter, Geschlecht, Erwerbsminderung und statistisch errechneter Krankheitshäufigkeit. Doch dieser Ausgleich weist Lücken auf: Es werden nicht sämtliche Erkrankungen berücksichtigt, sondern nur eine Liste von 80 chronischen oder zum Teil besonders teuren Erkrankungen – von Diabetes bis HIV. Nicht wirklich berücksichtigt ist zudem, dass ein- und dieselbe Krankheit bei Älteren womöglich länger braucht, bis sie auskuriert ist und mehr Arztbesuche erfordert als bei Jüngeren. Hinzu kommt: Regionale Unterschiede werden nicht ausgeglichen. Gerade in Großstädten gibt es jedoch eine üppigere medizinische Infrastruktur, die bezahlt werden muss.

Was muss sich ändern?

Darüber sind die Ansichten in den politischen Lagern höchst verschieden. SPD, Grüne und Linke wollen die Zusatzbeiträge wieder abschaffen, die Arbeitgeber weiter an künftigen Kostensteigerungen beteiligen und auch privat Versicherte ins Boot holen. Die FDP hat sich mit dem einst heftig bekämpften Gesundheitsfonds und die darüber praktizierte Umverteilung arrangiert. Bestimmte Kassen fordern einen noch exakteren Risikoausgleich. Einigkeit dürfte aber darüber bestehen, dass es bei künftigen Kasseninsolvenzen einen anderen Umgang mit alten und kranken Versicherten geben muss. Die Vorschläge reichen von einer Quotenregelung nach Marktanteilen bis zu einem solidarisch finanzierten Auffangbecken, das von der jeweils betroffenen Kassenart oder gleich von allen über den Fonds finanziert wird.

ZUM SYSTEM

ANZAHL

In Deutschland gibt es 155 gesetzliche Krankenkassen, in denen rund 70 Millionen Menschen versichert sind.

FINANZIERUNG

Die Kassen erhalten Geld aus dem Gesundheitsfonds, 2011 sind das knapp 180 Milliarden Euro. In den Fonds zahlen die Versicherten 15,5 Prozent ihres Bruttogehalts ein, außerdem gibt es einen Steuerzuschuss. Die Kassen können darüber hinaus Zusatzbeiträge verlangen.

GEGRÜNDET

Reichskanzler Otto von Bismarck führte zum 1. Dezember 1884 die Krankenversicherung der Arbeiter ein – der Vorläufer der heutigen Sozialversicherung. Diese übernimmt seitdem unter anderem die Kosten für die ärztliche Behandlung.

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