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Wirtschaft: Gesunkenes U-Boot "Kursk": Ein tonnenschwerer Betrug

In diesen Tagen verpasst Walentina Staroselzowa keine einzige Nachrichtensendung. Denn kaum ein Bericht im Fernsehen, in dem nicht der neueste Stand zur "Operation Kursk" vermeldet wird.

In diesen Tagen verpasst Walentina Staroselzowa keine einzige Nachrichtensendung. Denn kaum ein Bericht im Fernsehen, in dem nicht der neueste Stand zur "Operation Kursk" vermeldet wird. Vor bald einem Jahr, am 12. August, fand ihr 20-jähriger Sohn Dima den Tod in der Barentssee, auf dem bis heute modernsten U-Boot der russischen Flotte. "Es ist schrecklich", sagt die 52-jährige Krankenschwester, "jedes einzelne Wort dieser täglichen Verlautbarungen ist wie ein Stich ins Herz." Und doch sitzt sie jetzt jeden Abend vor dem Fernseher in ihrem kleinen Häuschen am Stadtrand von Kursk und saugt alle Meldungen über das U-Boot mit dem Namen ihrer Stadt begierig auf.

Zum Beispiel über die 26 Löcher, die Taucher in das Wrack bohren, um die Stahltrossen zur Hebung des Kolosses zu befestigen. Oder über das armdicke, mit Diamanten besetzte Stahlband, das bald zwischen zwei ferngesteuerte Roboter gespannt wird und den Bug mit den Torpedos vom restlichen Wrack absägen soll wie eine Scheibe Holz von einem gefällten Baumstamm.

Auf allen Kanälen verschlingt Walentina die Informationsbissen, die das russische Flottenkommando den Medien hinwirft. Sie muss, auch wenn es schmerzt. Denn am Ende der Bergungsarbeiten, die in diesen Tagen in der Barentssee angelaufen sind, könnte Walentina vielleicht endlich ihren Dima beerdigen. Dann hätte sie einen Ort, an dem sie Blumen niederlegen könnte. Und ihr Junge läge dann nicht mehr im Wrack der Kursk 108 Meter tief auf dem Meeresgrund. Doch Walentina hat auch Angst. Fürchterliche Angst vor dem Tag, an dem vielleicht der Anruf kommt und sie ihren Sohn identifizieren muss. "Was werde ich dann sehen?", fragt sie sich.

Wer sind die Schuldigen?

Bis zum 20. September soll die "Kursk" gehoben sein und in ein Trockendock nach Murmansk geschleppt werden. Natürlich müsse das U-Boot gehoben werden, "damit wir den Grund für die Katastrophe erfahren", sagt Walentina. Damit sich so etwas nicht wiederhole und die Schuldigen bestraft werden können. Aber wer sind die Schuldigen? Vielleicht die Admiräle, die am 10. August vergangenen Jahres zur Eile drängten und der Mannschaft keine Zeit ließen, die so genannten "Dicken", jene Kampftorpedos mit dem hochexplosiven Flüssigantrieb aus Kerosin und Wasserstoffperoxid, sicher einzuladen. Heute gilt als sicher, dass einer der Übungstorpedos an Bord der "Kursk" explodierte. Was immer auch zur Explosion führte: Walentina weiß nur, dass die Schuldigen vor Gericht müssen. "Aber das wird nicht passieren, genauso wenig, wie wir die wirkliche Ursache des Unglücks erfahren werden, weil das nun mal so ist, in unserem Russland."

Auf dem Ecktisch im Wohnzimmer hat Walentina Fotos von ihrem Sohn und seinem Freund Aljoscha Nekrasow, der ebenfalls umkam, aufgestellt. Daneben stehen eine kleine Ikone, ein Fläschchen mit Meerwasser aus der Barentssee und die Medaille, die Dima nach Ende der Grundausbildung bekam. An der Wand hängen Bilder von der "Kursk" und von der gesamten Mannschaft.

Als Dima im November 1999 zum Armeedienst nach Sewerodwinsk am Weißen Meer musste, war Walentina erleichtert. Anderthalb Jahre hatte sie alles unternommen, damit ihr Sohn, der bis dahin noch nie ohne seine Mutter die Stadt verlassen hatte, zur Nordmeerflotte kam. "Ich habe ihn auf das modernste U-Boot gebracht und ihn vor Tschetschenien bewahrt. Und das ist jetzt das Resultat." Das Wort "umgekommen" spricht sie niemals aus. "Die Matrosen sind auf einer sehr, sehr langen Fahrt", sagt Walentina stattdessen.

Dass sich die Führung der Nordmeerflotte nach dem Unglück erst in Schweigen hüllte, um sich dann in Lügen über Klopfzeichen der Mannschaft bis hin zum Beginn der Evakuierungsmaßnahmen zu flüchten, hat die Mutter des toten Dima hingenommen. Zorn verspürt sie bis heute nicht. "Ich hoffe nur, dass die Leute, die uns so lange betrogen haben, niemals das Gleiche erleben müssen."

Um das Fiasko in den Medien vom letzten August zu vermeiden, inszeniert der Kreml nun schon seit zwei Monaten ein eindrückliches "Kursk-Spektakel". Schließlich hatte Präsident Wladimir Putin persönlich den Angehörigen sein Wort gegeben, dass die "Kursk" gehoben wird. Und das Wort des Präsidenten wiegt ziemlich genau 18 000 Tonnen. Das Oberkommando der Flotte, die Regierung und die PR-Strategen des Kremls tun alles, um nur ja keine Zweifel und Bedenken am Erfolg der riskanten und komplizierten Bergung aufkommen zu lassen. Die offizielle Kreml-Website ( www.kursk.strana.ru ) bedient seit zwei Monaten mit Fotos, Interviews und Statements die Gier nach Neuigkeiten. Der smarte Kreml-Sprecher Sergej Jastrschembski versprach ein "hohes Maß an Öffentlichkeit". Wie zum Beweis lud der Kreml rund 100 in- und ausländische Journalisten für 100 Dollar auf eine Schiffsfahrt zur Unglücksstelle ein, rund 300 Kilometer nördlich des Polarkreises. Dort angekommen sahen die Journalisten nichts außer Wasser und den Schiffen, die die Unglücksstelle sichern. Kameraleute filmten also notgedrungen andere Kameraleute.

"Wir werden wieder genauso betrogen, wie vor einem Jahr", seufzt Irina Zimbal in ihrer halb renovierten Küche. Dass die Bergung im September gelingt, kann sie sich nicht vorstellen. "Die Vorbereitungen hätten früher beginnen müssen. Im September ist die Barentssee zu unruhig." Im Januar zog die 27-jährige Witwe mit ihren fünf und sieben Jahre alten Söhnen Wowa und Ilja aus der Garnisionsstadt Widjajewo bei Murmansk in das zentralrussische Kursk, 600 Kilometer südlich von Moskau. Die Stadtverwaltung hat 16 Wohnungen in dem zehnstöckigen Neubau aus weißem Ziegelstein für Angehörige der "Kursk-Opfer" reserviert. Die Plattenbausiedlung rund um den Chruschtschow-Prospekt am nordwestlichen Stadtrand ist wegen der ruhigen Lage beliebt. Hier fährt man früh morgens zur Arbeit und kommt spät abends nach Hause. Irina verlässt die Wohnung höchstens der Kinder wegen. Arbeiten muss die zierliche Frau vorläufig nicht. Der Staat zahlte ihr, wie allen Witwen, mit 720 000 Rubel (rund 60 000 Mark) eine für Russland stattliche Kompensation, die Wohnungen stellte das Verteidigungsministerium. Im Frühjahr ließ der Bürgermeister von Kursk am Chruschtschow-Prospekt 118 junge Birken pflanzen. Für jeden Seemann eine.

In Irinas Küche sitzen auch Swetlana Kusnezowa und Ljubow Kitschkirjuk. Vor dem Unglück hatten sich die drei Frauen in der Garnisionsstadt Widjajewo flüchtig gekannt. Das Städtchen mit den 58 Häusern ist klein, jeder kannte jeden. Jetzt sitzen die drei Witwen, die zur gleichen Zeit nach Kursk zogen, beinahe täglich in Irinas Küche. "Wir stützen uns gegenseitig", sagt Ljubow. Früher haben sie nie getrunken. Jetzt steht meistens eine Flasche Wodka auf dem Tisch. Irina hat Brot und Wurst geschnitten. Die drei Witwen trinken den Wodka so, wie es ihre Männer täten. 50 Gramm auf Ex. Die Sprotten fischen die Frauen mit der Gabel direkt aus der Konserve. Ein Glas Wodka mit einer Scheibe Brot steht neben dem Modell der "Kursk". "Früher", so erklärt Ljubow, "galt der dritte Wodka immer den Matrosen, die von der See nicht zurückkamen. Aber jetzt ...", Ljubow Kitschkirjuk schluchzt. Den Satz kann sie nicht zu Ende bringen.

Swetlana Kusnezowa ist überzeugt, dass ihr Mann Wiktor ihr nach den Explosionen an Bord noch einen Brief geschrieben hat. "Warum sonst hätte das Flottenkommando als Schriftprobe die beiden Briefe verlangt, die Wiktor noch kurz vor dem Manöver an seine krebskranke Mutter Olga nach Kursk geschickt hatte?", fragt sie sich. Am 30. Oktober erhielt die 24-Jährige in Widjajewo einen Anruf aus dem Militärhospital Seweromorsk. Taucher hatten ihren Mann geborgen. Sie solle sofort kommen, um die Leiche zu identifizieren. "Er sah aus, als ob er schlief. Ein bisschen rosig im Gesicht." Von einem möglichen Abschiedsbrief wusste niemand etwas in Seweromorsk. Am selben Tag starb Olga in Kursk. Swetlana wollte ihr noch Bescheid geben, aber ihr Anruf aus Widjajewo kam zu spät. Am 3. November wurden Wiktor und Olga in Kursk bestattet. Wiktor erhielt ein Grab auf dem Heldenfriedhof mit allen militärischen Ehren, fast zur gleichen Zeit wurde seine Mutter in aller Stille auf dem Südfriedhof beigesetzt.

Eltern gehen leer aus

Der Tod der 118 Seeleute spaltet Familien. Während die Witwen ihre Entschädigung erhalten haben, gehen die Eltern leer aus. Nur wenn der Sohn noch nicht verheiratet war, bekommen sie die gleiche Entschädigung. Galina Jerachtina und ihr Mann Nikolaj kämpfen seit einem halben Jahr darum, wegen des Todes ihres 22-jährigen Sohnes Sergej als "Geschädigte" anerkannt zu werden. Sergejs Frau Natalja hat ihre Kompensation erhalten. Sie lebt in St. Petersburg und hat sich bei ihren Schwiegereltern nicht mehr gemeldet. Im Februar hat Galina an die Generalstaatsanwaltschaft geschrieben. Im Mai erhielt sie Antwort: Solange die "Kursk" nicht gehoben werde, könne ihr Fall nicht bearbeitet werden. Galina versteht die Welt nicht mehr. "Wer hat denn 22 Jahre für den Sohn gesorgt?"

Vor zwei Wochen sind Galina und Nikolaj als eine der letzten Familien aus Widjajewo weggezogen. "Alle ziehen weg. Die ständige Erinnerung dort oben kann man nicht aushalten", sagt Galina. Wenn die "Kursk" gehoben wird, soll Sergej in St. Petersburg begraben werden, so will es die Braut. Allein der Gedanke daran treibt Galina die Tränen in die Augen. Die 41-Jährige leidet unter schwerem Rheuma und kann sich wegen der Schmerzen in Armen und Beinen kaum bewegen und auch das Haus nicht verlassen. "Wie soll ich denn jemals meinem Sohn Blumen bringen, wenn er in St. Petersburg begraben liegt?"

Die Wohnung in Kursk erhielten die Jerachtins umsonst, weil Nikolaj selbst elf Jahre auf den U-Booten der Nordmeerflotte gedient hat. Manchmal streitet sich das Ehepaar darüber, ob ihr Sohn hätte gerettet werden können. Der 45-jährige Rentner raucht eine Zigarette nach der anderen. Noch immer fühlt er sich der Flotte verbunden. "Als Patriot glaube ich, dass Russland alles getan hat, um die Mannschaft zu retten", sagt Nikolaj und bläst eine Tabakwolke aus. Aber daran, dass sie jemals die genaue Ursache für den Untergang der "Kursk" erfahren werden, zweifelt auch der ehemalige Unteroffizier. Er kennt die Strukturen von Militär und Flotte gut. "Am Ende werden sie uns wieder nur so viel sagen, wie sie für nötig halten."

Stephan Hille

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