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Wirtschaft: Get out! Raus! Raus!

Das Riesenflugzeug A380 im Notfall-Test: 853 Passagiere haben 90 Sekunden Zeit für den Ausstieg

Der neue Airbus A380 ist so groß, dass es fast eine Stunde dauert, bis alle Passagiere an Bord sind. Im Notfall müssen die 853 Fluggäste und 20 Crewmitglieder aber innerhalb von 90 Sekunden das Flugzeug verlassen.

Ob das machbar ist, testet der europäische Flugzeughersteller Airbus im Sommer. In einer Hamburger Fabrikhalle werden die Testpersonen an Bord des zweistöckigen Großraumjets gehen und sich anschnallen. Die Organisatoren werfen Decken und Gepäck in den Passagierraum, um das Chaos nach einer Flugzeugkatastrophe zu simulieren. Sie drücken einigen Menschen lebensgroße Puppen in den Arm, damit sie Eltern mimen. Dann wird das Licht ausgehen, die Flugzeugtüren und Notausgänge aufspringen und Notrutschen hervorschnellen. Und das Flugpersonal wird schreien: „Get out! Raus! Raus!“ Von Toiletten-Attrappen oder Küchenkombüsen aus verfolgen die Airbus-Ingenieure das kontrollierte Chaos – und mit ihnen eigens angereiste Vertreter europäischer und amerikanischer Zulassungsbehörden.

Der Evakuierungstest wird alle Dimensionen sprengen, so wie auch der A380 das größte Passagierflugzeug aller Zeiten ist. Flugzeugbauer und Zulassungsbehörden untersuchen bei solchen Tests, ob die Technik reibungslos funktioniert, und beobachten, wie sich Menschen in Notsituationen verhalten. Die Behörden interessiert im Fall des A380 vor allem, wie die Testpersonen reagieren, wenn sie an der Tür des zweistöckigen Flugzeuges in die Tiefe blicken und realisieren, dass sie auf eine steile Nylon-Rutsche springen müssen. Sträuben sie sich und behindern andere beim Fliehen? Stolpern die Flugpassagiere am Fuß der Notrutschen übereinander?

Erst wenn der A380 den Evakuierungstest bestanden hat, darf er in Verkehr genommen werden. Sollte das Großraumflugzeug – das Mitte April seinen ersten Testflug absolvieren soll – die Prüfung nicht bestehen, dann müsste Airbus vermutlich die Zahl der Passagiersitze verringern. Das wiederum könnte die Geschäftsaussichten des A380 für die verkehrsreichen Flugrouten in Asien und Nahost verschlechtern. Bisher hat Airbus schon 137 Verkaufsaufträge für die Passagier-Version des Flugzeuges. Der Hersteller gehört zu 80 Prozent dem europäischen Luftfahrt- und Rüstungskonzern EADS; 20 Prozent hält der britische Konzern BAE Systems. Die beiden Unternehmen haben gemeinsam mit Industriepartnern und EU-Staaten mehr als neun Milliarden Euro in den A380 investiert.

Die Anforderungen an die Evakuierungstests sind hoch. Die US-Aufsichtsbehörde verlangt für jedes Flugzeug mit mehr als 44 Sitzen, dass die Passagiere innerhalb von 90 Sekunden den Jet verlassen können. Die Regulierer gehen davon aus, dass die meisten Fluggäste innerhalb dieser Zeitspanne ein brennendes Flugzeugwrack verlassen haben müssen, um nicht zu sterben. Zudem darf nur die Hälfte der Notausgänge bei den Tests geöffnet werden. In realen Notsituationen sei auch nicht jede Tür verfügbar, so die Argumentation.

Die Zulassungsbehörden schraubten die Anforderungen an Evakuierungstests in die Höhe, nachdem in den 80er Jahren bei Flugzeugkatastrophen einige Menschen ums Leben kamen. Die Behörden realisierten, dass Evakuierungstests vom realen Chaos bei Flugzeugkatastrophen weit entfernt waren. Flugzeugbauer müssen seitdem höhere Sicherheitsauflagen erfüllen. Die Regulierer fordern zudem eine höhere Realitätsnähe der Evakuierungstests. Damit steigt allerdings auch die Verletzungsgefahr der Testpersonen.

Als der Flugzeugbauer McDonnell-Douglas, der später mit Boeing fusionierte, seine neue MD-11-Maschine in einem dunklen Hangar in Kalifornien testete, brauchten die Freiwilligen 132 Sekunden, um aus dem Flugzeug zu hetzen. Zu lang. Obwohl 28 Menschen verletzt wurden, trieb McDonnell Douglas die Leute bei einem neuen Test zu größerer Eile an. Im Chaos verfing sich der Fuß einer 60-Jährigen an einer Notrutsche. Sie überschlug sich, fiel der Nase nach auf einen Haufen Menschen und brach sich ihr Genick. Seitdem ist sie gelähmt.

Während die Notrutschen des neuen A380 im vergangenen Jahr getestet wurden, entspann sich eine transatlantische Diskussion über die Art des Evakuierungstests. Sollten beide Stockwerke des Flugzeugs gemeinsam getestet werden? Airbus geht davon aus, dass im Fall einer Katastrophe die Treppen zwischen den Stockwerken ohnehin nicht benutzbar sind. Damit bestehe keine Gefahr, dass Passagiere des oberen Decks nach unten liefen und dort die Notausgänge verstopften, heißt es bei Airbus. Deswegen plädierte das Unternehmen dafür, die beiden Decks getrennt zu testen. Europäische Zulassungsbehörden waren einverstanden, die US-Regulierer leisteten aber Widerstand. Deswegen erstreckt sich nun der Evakuierungstest auf das komplette Flugzeug.

Erste Versuche haben die Hamburger Airbus-Ingenieure Ende 2004 schon durchgeführt. Seit kurzer Zeit verteilen die Ingeneure in ganz Hamburg Handzettel in Fitnesscentern. Sie suchen gesunde und fitte Leute für den Evakuierungstest, um die Verletzungsgefahr möglichst gering zu halten. Bei der Auswahl der Testpersonen, die übrigens 50 Euro erhalten, hat Airbus nicht ganz freie Hand: Mindestens 40 Prozent der Passagiere müssen Frauen sein und 35 Prozent über 50 Jahre sein, um die typische Zusammensetzung einer Passagierfracht zu simulieren.

Wann der Ttest stattfindet, ist noch nicht klar. Sicher ist aber schon, dass Airbus einige Vorsichtsmaßnahmen treffen darf, um das Verletzungsrisiko der Freiwilligen zu verringern. Schon vor Testbeginn werden einige Notrutschen des oberen Stockwerks aufgeblasen und darunter Kissen verteilt sowie kleine Lichter am Fuß der Rutschen angebracht. Sicher ist auch, dass fast 250 Regulierer, Ingenieure und Ärzte zusehen, wie die Testpersonen und die Crew an Bord gehen. Auf das Startzeichen der Zulassungsbehörde hin werden die Stewardessen – die auch im wahren Leben Flugbegleiterinnen sind – die Türen öffnen und die Passagiere zu den nächstgelegenen Rutschen treiben. 90 Sekunden lang wird die Airbus-Spitze kollektiv den Atem anhalten.

Daniel Michaels, J. Lynn Lunsford

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