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Wirtschaft: Gisela Bleckert

(Geb. 1942)||Sie hatte viele Dinge im Griff. Am Ende auch ihr eigenes Schicksal.

Sie hatte viele Dinge im Griff. Am Ende auch ihr eigenes Schicksal. Im August wollte sie mit ihrem Mann nach Sibirien reisen, zur unbändigen Lena. Das passte zu ihr. So wie der Traum, einmal mit dem Hundeschlitten durchs eisige Grönland zu rasen. Sie liebte die Freiheit, den offenen Horizont. „Mir schwebt eine Wochenendbeziehung vor“, sagte sie, als sie ihren zweiten Mann vor 20 Jahren kennen lernte. Nach der Scheidung vom ersten hatte sie von der Ehe eigentlich genug.

„Vom Schlafrhythmus her, wäre ich besser Barmieze geworden“, sagte sie. Und ging brav jeden Tag frühmorgens in die Amtsvormundschaft, wo sie als gehobene Beamtin ihren Dienst versah.

Dem neuen Mann zuliebe heiratete sie schließlich doch nochmal, auch zum Erstaunen ihrer zwei halbwüchsigen Töchter. „Versprich mir nur, dass du nicht klammerst“, sagte sie. So wurden sie glücklich miteinander.

Sie hatte nie Angst vor Verantwortung, keine Scheu vor den schwierigen Seiten des Lebens. Für alle war sie die starke Frau. Bodenhaftung wie ein Baum. Ein Kind aus schwierigen Verhältnissen zu adoptieren, nachdem sie ein eigenes bekommen hatte – fast schon eine Selbstverständlichkeit. Auf ihrer Arbeit in der Amtsvormundschaft hatte sie es immer wieder mit dem Furchtbarsten zu tun: Väter, die sich zu Tode soffen, solche, die ihre Familien bedrohten, Missbrauch an Kleinstkindern. Wenn es sein musste, ging sie persönlich in eine Wohnung hinein und holte mit Gerichtsvollzieher und Polizei ein Kind aus der Familie. Das gehörte nun mal zu ihrer Arbeit. Ebenso die schlechten Träume in der Nacht.

Ihren Mann lernte sie bei einer Gemeinschaft der Guttempler kennen, einer Selbsthilfeorganisation für Alkoholkranke und ihre Angehörigen. Enthaltsamkeit, Brüderlichkeit und Frieden lauten dort die Grundsätze – für sie war es der Ort, an dem sie den „König Alkohol“ endgültig bezwang. Jahre zuvor hatte er ihr geholfen zu funktionieren – einzuschlafen. Doch irgendwann beherrschte er sie: Ihre Hand zitterte beim Schreiben, wenn sie nicht den richtigen Pegel hatte. Sie entschied: aufhören! Und konnte es.

Sie wurde zur Spezialistin für alkoholfreie Bowlen. Sie zeigte ihrem Mann, wie man das Leben auch nüchtern genießen kann, mit feinem Essen, Musik, Literatur, ganz ohne Verzicht. Anders war es mit ihren geliebten „Gitanes“, filterlos. Jeden Tag brauchte sie zwei bis drei von den blauen Schachteln. Die Zigaretten, sagt ihr Mann, gehörten zu ihr wie Miles Davis, die durchdiskutierten Nächte und das Radeln am Kanal.

„Woher dieser Drang zur Selbstzerstörung?“, fragte sie sich manchmal. Eine Antwort gab es nicht. Sie funktionierte so wunderbar für andere, für ihre Töchter, für ihren Mann, für die Bezirksreform von Tempelhof und Schöneberg. Während bei der Arbeit ein Erfolg auf den anderen folgte, fünf Beförderungen in kürzester Zeit bis zur Obermagistratsrätin, ging es ihr körperlich immer schlechter. Sie versuchte es einmal ernsthaft mit Akupunktur, doch als sie es nicht packte, traute sie sich nicht, sich ihrem Arzt anzuvertrauen: „Ich habe nicht gelernt, um Hilfe zu bitten.“

Im Jahr 2004 sagte der Gefäßchirurg: „Vor zehn Jahren wäre ein guter Zeitpunkt gewesen aufzuhören. Ab jetzt bringt sie jede Zigarette näher in Richtung Amputation.“ Die Schmerzen, das Atmen, das Raucherbein, alles wurde schlimmer, von Monat zu Monat. Ihrem Mann zuliebe rauchte sie jetzt nur noch heimlich. Er erwischte er sie dabei, wie der Qualm aus der Jackentasche aufstieg. Ein furchtbarer Moment. Heute rührt ihn die Erinnerung, weil er weiß: Sie wollte ihn doch aus Liebe schonen.

Die letzten Wochen verbrachte sie fast nur in Krankenhäusern. Nach der großen Operation an der Wirbelsäule war sie nicht „rehafähig“, hatte Lungenembolien, Erstickungsanfälle, Todesangst. Dann die Sache mit den verschlossenen Bypässen. Die Ärzte wollten zunächst die Venen erweitern und neue Bypässe legen. Ihr war bewusst, dass sie nach der Operation möglicherweise ohne ihr rechtes Bein aufwachen würde.

Es war der Tag vor der Operation im Martin-Luther-Krankenhaus. Bevor sie dorthin fuhr, übergab sie ihrem Mann zwei leere Zigarettenschachteln, ihre beiden Feuerzeuge sowie einen kleinen Aschenbecher. Sie rauchte nicht an diesem Tag. Um 23 Uhr 20 telefonierte sie zum letzten Mal mit ihm. Um 23 Uhr 35 stieg sie in ihrem Zimmer im vierten Stock des Krankenhauses auf einen Stuhl und sprang aus dem Fenster.

„Sie tat es mit klarem Bewusstsein, aus freiem Entschluss“, sagen ihr Mann und die Freunde, heute. Der Schock hat etwas nachgelassen. „Sie wusste, ich hätte immer zu ihr gestanden und sie, egal in welchem Zustand, gepflegt“, sagt ihr Mann. Und er fragt: „Hat nicht jeder Mensch auch die Freiheit, an einem bestimmten Punkt seines Lebens den Tod zu bejahen, der uns allen ohnehin bevorsteht, früher oder später?“ Und er zitiert Cicero: „Was aber für alle unausbleiblich ist, kann das für den Einzelnen ein Unglück sein?“

Seine Frau hatte das Leben geliebt, früher. Die blauen „Gitanes“ gehörten für sie dazu. Und ihre beiden Beine. Das Leben, das sie nach einer Amputation noch gehabt hätte – mit den rasselnden Bronchien, den Schmerzen und Erstickungsanfällen, dem weiteren Verfall – sie entschied sich dagegen. „Zum Schluss war sie noch einmal sehr stark, für sich. Sie hat ihren zerstörten Körper verlassen“, sagt ihr Mann.

Gestern wurde ihre Urne auf dem Stahnsdorfer Friedhof beigesetzt, an einer Stelle mit Blick in Richtung Osten. Auf dem naturbelassenen Waldstück „Epiphanien“, am Baum Nummer 108.

Kirsten Wenzel

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