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Griechenland am Abgrund: Die Krise ist wie eine ansteckende Krankheit

Tausend Euro hat sie als Lehrerin verdient. Jetzt sind es gerade noch 350. Fotini Tsakiridou sagt: „Es ist zum Verzweifeln.“ Ihr Mann sagt: „Es ist das Ende.“ Die Krise erfasst alle in Griechenland. Zum Beispiel in der Kleinstadt Drama.

Wenn sie nichts mehr als den Schlaf herbeisehnt, fängt es an: das Grübeln, wie es weitergehen soll. Dann wälzt sich Fotini Tsakiridou in ihrem Bett und weiß nicht, wie sie den Kredit für die Wohnung bezahlen soll. Wie die neuen Stoßdämpfer für das Auto? Was tun, wenn die Waschmaschine endgültig stehen bleibt? „Es ist zum Verzweifeln“, sagt die dreifache Mutter und versucht, die Sorgen wegzulächeln. „Es ist das Ende“, sagt ihr Mann.

Ganz im Nordosten Griechenlands, wo statt Meer sanft geschwungene Bergketten zu sehen sind und die schönsten Häuser den aus Deutschland heimgekehrten früheren Gastarbeitern gehören, liegt die Kleinstadt Drama. 45 000 Einwohner, 40 Prozent Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen. Die Textilindustrie ist ins benachbarte Bulgarien abgewandert, der Tabakanbau lohnt sich nicht mehr, und die Papierfabrik mit 1200 Arbeitern machte schon vor einigen Jahren dicht.

In dem winzigen Dorf namens Kokkinogia, nur ein paar Autominuten von Drama entfernt, lebt Fotini Tsakiridou mit ihrer Familie und spürt jeden Tag die Folgen der Krise. „Es gibt nur noch schlechte Nachrichten“, sagt die 37-Jährige und muss zusehen, wie langsam zerfällt, was früher so beständig schien. Der Schulbus fährt nicht mehr, sie muss ihre zwei Ältesten jetzt selbst in den Nachbarort kutschieren. Der Kindergarten im Dorf steht vor dem Aus. Die Anmeldezahlen gehen zurück, weil viele Paare sich ganz genau überlegen, ob sie sich noch ein zweites Kind leisten können. „Alles wird teurer, und die Einkommen sinken“, sagt Fotini Tsakiridou. Sie ist froh über den Gemüsegarten hinterm Haus, der manchen Gang in den Supermarkt überflüssig macht.

Die Rechnung der Familie geht nicht mehr auf. Das zweite Sparpaket, Voraussetzung für die internationalen Hilfskredite, die ihr Land retten sollen, bricht den Tsakiridous das Genick. „Nach all den Kürzungen werden mir 800 Euro im Monat bleiben“, erzählt der Ehemann Theofylaktos, der beim Ausländeramt in Drama arbeitet und wie alle Staatsbediensteten sein Gehalt schwinden sieht. Vor zwei Jahren habe er noch 1250 Euro verdient. Seiner Frau geht es ähnlich. Fotini Tsakiridous Einkommen als Deutschlehrerin auf einer Privatschule ist von 1000 auf 350 Euro geschrumpft. Obwohl die Griechen lieber beim Urlaub als bei der Bildung ihrer Kinder sparen, verlassen immer mehr Schüler ihre Privatschule. Das kümmert die Bank wenig: Die 400 Euro Kredit für den Hauskauf müssen bezahlt werden.

Die Krise ist wie eine ansteckende Krankheit. Sie hat alle erfasst, die Einzelhändler, die Beamten, die Rentner, sogar die Priester. Die Treppe zur orthodoxen Kirche, die Fotini Tsakiridou sonntags mit ihren Kindern hinaufsteigt, ist aus blank poliertem Marmor. Drinnen glänzt und funkelt es – roter Samt, Kerzenleuchter, das himmelblaue Gewölbe mit seinen Ikonenmalereien scheint zu schweben. An einer der Säulen im Eingangsbereich lehnt Pater Konstantin. Er kennt die Nöte in der Region wie kaum ein anderer. Die Bedrängten kommen zu ihm, wenn sie Beistand oder Geld brauchen, sie beten gemeinsam, dass der wirtschaftliche Niedergang aufhöre und die Griechen eine Zukunft haben.

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Bei der Kollekte sieht Pater Konstantin, schwarzes Gewand, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, die wachsende Armut besonders gut. Immer öfter lägen Zehn- oder gar Fünfcentstücke auf dem Teller, der sonntags durch die Bänke gereicht wird. Sogar der Kerzenverkauf – 1,50 Euro kosten die großen – sei deutlich zurückgegangen. „Die Kirche ist in dieser Zeit wichtiger geworden, sie ist ein Hafen für die Menschen“, sagt der Priester. Er zeigt auf eine Mariendarstellung hoch droben im Altarraum. „Sie nimmt uns in die Arme“, sagt er, sie schenke Vertrauen, Ehrlichkeit und Liebe, daran kranke es in der Gesellschaft. Kurz bevor er wieder los muss, erzählt er noch von sich selbst. Von seinen Eltern, die in Leonberg bei Stuttgart gelebt und bei Bosch gearbeitet hätten, und auch davon, wie gut er Deutschland finde: ein Land voller Disziplin. Ganz anders als das Chaos hier.

Die Versuchung, ins Flugzeug zu steigen und das kollabierte Land hinter sich zu lassen, ist groß. Fotini Tsakiridou hätte es einfach. Sie ist im schwäbischen Rottenburg aufgewachsen, wo ihre Eltern bis vor Kurzem im eigenen Restaurant Gyros und Zaziki servierten. Auch ihr Mann würde lieber heute als morgen auswandern. Nur Deutsch kann er kein Wort. „Ich fange in einem Lokal an, ich mache alles“, sagt der 39-Jährige. „Am schlimmsten ist die Sorge um die Kinder“, sagt er. Wie könnte er sie guten Gewissens in einem Land aufwachsen lassen, das ihnen nichts zu bieten habe: keine Jobs und eine Wirtschaft, die so wackelig ist wie ein Kartenhaus.

Ihre Wut schreien sich die Tsakiridous aus dem Bauch. In den Straßen von Drama, zusammen mit Hunderten anderen Bürgern. „Diebe“, brüllen die Demonstranten in den sternenklaren Abend und klatschen rhythmisch dazu. „Haut ab“, rufen sie in den Gassen der Kleinstadt. Die Anwohner auf den Balkonen stimmen mit ein. Das Sparprogramm mit seinen Steuererhöhungen und Sozialkürzungen ist schon beschlossene Sache, aber der Protest geht weiter. „Wir lassen uns nicht aufhalten, es ist nie zu spät“, sagt Theofylaktos, an der rechten Hand seinen Sohn, an der linken die dreijährige Sophia, die begeistert ist von den Sprechgesängen.

Ganz vorne läuft die kleine Familie mit, direkt hinter den Megafonen. Es sei ihre erste Demonstration, erzählt Fotini Tsakiridou, sie wolle sich später von ihren Kindern nicht vorwerfen lassen, sie habe sich nicht gewehrt. Vor dem Büro eines sozialistischen Abgeordneten bleibt der Tross stehen, einer schraubt das Namensschild des Politikers ab, es landet unter Applaus im nächsten Mülleimer.

Angst vor dem Ruin geht um in Drama. Ein Zehntel der Einzelhändler musste 2010 schließen, weil keine Kunden mehr kamen. Kredite für ein Auto, einen Urlaub, für die Hochzeit gibt es heute nicht mehr in den Banken. Die Menschen räumen ihre Konten, tragen die restlichen Euro, die sie noch haben, ins Ausland.

„Wir kämpfen“, sagt der Mittelständler Vassilis Hatzis. Er macht sein Geld mit Tomaten. Ein Familienbetrieb, früher drei Angestellte, heute noch einer und natürlich die Saisonkräfte. Im August und September brummt es in der Fabrik. 300 Tonnen Tomaten von den Feldern der Region werden rund um die Uhr auf langen Bändern getrocknet oder in Öl eingelegt. Unter dem Firmennamen „Idiotropa“, auf Deutsch „anspruchsvoll“, vermarktet der 58-Jährige die handsortierte Ware. Ein zeitaufwendiges Geschäft, das immer weniger Profit bringt, sagt er. Die Konkurrenz in der Türkei und in Marokko produziere billiger. Um ein Drittel sind die Umsätze eingebrochen binnen zwei Jahren.

„Was soll ich tun?“, fragt Fotini Tsakiridou. Wenn sie nachts nicht schlafen kann, steht sie auf, macht in der Küche sauber, wo gar nichts mehr zum Saubermachen ist. Sie kocht sich Salbeitee zur Beruhigung. Den braucht sie, wenn sie an ihren Kontostand denkt und die Bilder der Gewalt in den Fernsehnachrichten. „Ich kann die Jungen gut verstehen, die sich nichts mehr gefallen lassen wollen“, sagt sie.

Noch überlegt sie, ob sie nicht ein zweites Mal in ihrem Leben alles einpacken und dorthin fliegen soll, wo sie hergekommen ist, nach Deutschland. „Vielleicht wäre es das Richtige“, sagt sie, „vielleicht sollten wir einfach abreisen.“

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