zum Hauptinhalt
Ihre Reise führte unsere Autorinnen unter anderem zur Akropolis in Athen, nach Heraklion und Piräus.

© dpa

Griechenland: Eine Reise durchs Krisengebiet

Ein Urlaub führte zwei Tagesspiegel-Journalistinnen auf die Insel Kreta. Zwischen Traumstränden und malerischen Gebirgen trafen sie auf Armut, Erfindergeist und viel Wut. Was sie dabei über Europa lernten, hielten sie in ihrem Reisetagebuch fest.

Bleibt doch!“ ruft der Kellner, als wir aufstehen, und stellt uns ungefragt noch ein Bier auf den Tisch. Es heißt „Mythos“ und es geht aufs Haus, so wie alles, was wir heute noch trinken werden. Unser erster Abend in Griechenland. Eigentlich wollen wir die Akropolis besichtigen, den Hügel, auf dem die Demokratie geboren wurde, das Fundament Europas. Das mächtige Bauwerk thront hoch über der Stadt. Doch auf halbem Weg sind wir in diese kleine Bar gestolpert, vor der ein paar junge Griechen unter einer weinberankten Pergola sitzen und der Sonne beim Untergehen zuschauen. Also gut, wir bleiben. Dieses Europa ist uns näher als die alten Säulen dort oben.

FRANKFURT AM MAIN
13. Oktober
Wir waren in Frankfurt bei Regen ins Flugzeug gestiegen und hatten uns auf die letzten warmen Tage des Jahres gefreut. Unsere Wahl war auf Kreta gefallen, weil die Sonne dort noch lange im Jahr scheint. An die Krise dachten wir kaum. Sie war uns präsent als eine Art Hintergrundrauschen, die tagtägliche Dauerschleife der Euro-Griechenland- EU-Gipfel-Merkel-Brüssel-Geld-Schulden-Staatsanleihen-Kredite-Krise. Wir wollten Urlaub machen auf Kreta.
Im Flugzeug schlagen wir den Reiseführer auf. Wir lesen von Traumstränden, Bergschluchten und Ausgrabungsstätten. Im Kapitel „Geschichte“ steht: „Die griechische Mythologie berichtet von der Entführung der Prinzessin Europa durch den Göttervater Zeus in Verkleidung eines Stiers auf die Insel Kreta. Darum gilt Kreta auch als Wiege der europäischen Kultur.“ Die Worte wirken seltsam veraltet. Für uns ist Griechenland vor allem das Land, an dem Europa zu scheitern droht. Das Land, in dem die Schuldenkrise ihren Anfang nahm, das Land, das über seine Verhältnisse gelebt hat und jetzt die Rechnung zahlen muss. Das Land, in dem die Menschen gegen ihre Regierung, gegen Europa und gegen die deutsche Kanzlerin demonstrieren und dabei Hakenkreuze hochhalten und Merkel mit Hitler vergleichen. Das Land, dessen Rettung unser Land 14 Milliarden Euro kosten soll.
Wie wird es dort wohl sein? Wie werden die Griechen auf uns Deutsche reagieren? Auf wessen Seite werden wir stehen? Und wie viel Europa werden wir entdecken, fragen wir uns, während die Lufthansa-Maschine über den Balkan Richtung Athen gleitet.

ATHEN
14. Oktober
Es ist Nacht, als wir am Flughafen Eleftherios Venizelos ankommen. Wir laufen durch menschenleere Gänge. Aus den Lautsprechern tönt ein trauriger Schubert. Auf dem Weg in die Stadt suchen wir nach Zeichen der Krise. Doch die Straßen sind neu, der Bus wirkt modern. Wir passieren hell angestrahlte Bauten, die so aussehen, als seien sie berühmt. Dann taucht vor uns der Syntagma-Platz auf. Wir kennen ihn aus dem Fernsehen, von Demonstrationen und Ausschreitungen. Hier ist Endstation. Das Parlament, vor dem vor ein paar Wochen noch Hakenkreuzflaggen geschwenkt wurden, liegt friedlich da. Es ist warm draußen. Wir ziehen die Jacken aus und wollen uns erst mal irgendwo fallen lassen. Ankommen. Doch wir müssen uns durch die endlos scheinende Menge an Taxifahrern drängeln, die hupend und schreiend um unsere Aufmerksamkeit buhlen.
Sieht aus, als kämen nicht mehr viele Gäste an.
Ziellos flanieren wir am nächsten Morgen über die Boulevards und durch die Gassen. Sanierte Villen stehen neben beschmierten Ruinen. Viele Läden sind dicht. In den meisten Schaufenstern hängen nur noch Schilder, auf denen „Enoikiazetai“ steht, zu vermieten. Ein Café hat geöffnet. Die Besitzerin lacht freundlich, als wir unser erstes griechische Wort ausprobieren: „Kalimera“, „guten Morgen“. „Wo kommt ihr her?“ fragt sie. „Aus Deutschland“, sagen wir und lächeln zurück. So lächeln wir noch ziemlich lange, bis sie uns fragt, was wir wollen. Zwei Cappuccino, bitte. Sie gibt die Bestellung an die Kollegin weiter, die freundlich lächelnd neben ihr steht. Nachdem sie den Kaffee umständlich in die Maschine gefüllt hat, fragt sie bei der Chefin noch mal nach. Die Chefin fragt bei uns nach. Zwei Cappuccino, bitte. Als der erste Kaffee fertig ist, wiederholt sich die Prozedur, diesmal geht es um den Zucker. Es dauert eine Viertelstunde, bis wir den Laden mit zwei Getränken verlassen. Wir blicken durch die geöffnete Tür auf die Straße, in der das Sonnenlicht tanzt. Und lächeln. „Efcharisto“, sagen wir. „Auf Wiedersehen“, ruft die Chefin auf Deutsch.
Die Stadt ist voll von deutschen Produkten. Die Autos kommen von VW und Mercedes, die Uhr am U-Bahnhof von Siemens. Selbst die kleinen Stoffportemonnaies im Designerladen in der Altstadt kommen aus Berlin. Warum eigentlich? Hat Athen keine Designer? Ist es so schwer, ein Portemonnaie zu nähen oder eine Uhr zu bauen? Das Hintergrundrauschen wird lauter. Euro-Griechenland- EU-Gipfel-Merkel-Brüssel-Geld-Schulden-Staatsanleihen-Kredite-Krise.
Dank der Währungsunion konnte Griechenland sich vieles leisten, eine teure Infrastruktur, eine größere Verwaltung, mehr Waffen und U-Boote. Mit dem Euro stiegen die Löhne. Und die Preise. Die Banken gaben fleißig Kredite. Für Häuser, für VWs und Mercedes. Aber die Griechen haben selbst nie so viel produziert, wie sie eingekauft haben. Sie waren nicht wettbewerbsfähig, heißt es. Nicht effizient genug. Vielleicht zu langsam, wie die Café-Besitzerin, die ihre Tassen in eine Spülmaschine von Bosch einräumt. Was wäre, wenn die Griechen die ganzen deutschen Produkte nicht kaufen würden? Wer würde sie dann kaufen? Wer würde unsere Arbeit bezahlen? Und wer unseren Urlaub?

Es ist Abend. Wir sind in einer Bar unterhalb der Akropolis gelandet. Wir haben es wieder nicht bis oben geschafft. Eine Band spielt griechische Volkslieder, neu interpretiert. Das Bier kostet sechs Euro, das finden wir viel, aber die Band ist gut. Wir sind neugierig auf die jungen Griechen, die meisten hier sind zwischen 20 und 30. Die Stimmung ist ausgelassen, der Barkeeper macht einen Drink nach dem anderen. Wir denken daran, dass jeder Zweite in dieser Bar statistisch gesehen keinen Job hat. Nick hat zumindest Arbeit. Er packt am Hafen Paletten aus. Einen besseren Job findet er nicht, obwohl er ein Studium abgeschlossen hat. „Wo kommt ihr her?“ fragt er. „Aus Berlin“ sagen wir, weil das besser klingt, als Deutschland. „Tolle Stadt“, sagt er, und wir entspannen uns. „Merkel ist schlecht, aber die Deutschen mögen wir“, sagt Nick und gibt uns jedem ein Sechs-Euro-Bier aus. „Die Politiker, das sind alles Verbrecher, eure wie unsere.“

15. Oktober Die Frau im Kaffeeladen, die wir gestern noch nett fanden, nervt uns heute. Wieso dauert das so lange? Wir wollten doch noch auf die Akropolis und dann endlich nach Kreta. Nebenan im Reisebüro kaufen wir ein Ticket für die Fähre nach Kreta. Der Besitzer ist sehr freundlich. Er zeigt uns Bilder von seinem Haus auf der Insel, von seinem Restaurant, von seinem Esel. „Sehr schön“, sagen wir höflich. Umständlich füllt er einen Bogen aus. Dann geht er damit zum Faxgerät. „Ich faxe das jetzt an unseren anderen Laden“, erklärt er. „Dann kommt jemand und bringt das Ticket. Warten Sie eine halbe Stunde.“ Wie bitte? Wir können es nicht glauben, dass sein Computer kein Ticket erstellen kann. Wie ineffizient, kein Wunder, dass hier nichts funktioniert! Und dann erschreckt uns dieser Gedanke. Vielleicht sind wir zu deutsch für Griechenland.

Von Piräus nach Listaros

PIRÄUS
15. Oktober
Wir rauschen mit dem Taxi nach Piräus, die Hafenstadt, die an Athen grenzt. Mit der U-Bahn zu fahren trauen wir uns nicht. Bekannte haben uns vor Überfällen gewarnt. Gegen zehn Uhr abends steigen wir auf die Fähre nach Heraklion. Die meisten Passagiere verzichten auf eine Schlafkabine und übernachten auf den Sesseln in den Fluren des Schiffes. Mütter mit Kindern, genauso wie Geschäftsleute mit Laptop. Es sieht aus wie ein Flüchtlingslager. Wir setzen uns dazu. Acht Stunden schaukeln. So unruhig wie das Mittelmeer ist unser Schlaf.

HERAKLION 16. Oktober Das Erste, was wir von Kreta sehen, sind die gelb schimmernden Hafenlaternen. Mit dem Auto fahren wir ins Landesinnere. Wieder sehen wir leer stehende Geschäfte, in deren Schaufenstern nur die Vermietung angepriesen wird. Wir fahren durch tiefe Täler. Kurve für Kurve mäandern wir entlang an Bergen, an denen sich Büsche und Sträucher die Hänge hinaufflecken. Von den Gipfeln reicht der Blick über Olivenhaine und kleine Bergdörfchen. Wir fragen uns, wie an einem schönen Ort wie diesem Krise sein kann.

SIVAS 16. Oktober Ein Metzger, ein Café und drei Tavernen umrahmen den Marktplatz in Sivas. Fünf alte Männer dösen vor dem Kafenion neben der Kirche. Sie trinken Frappé, ein Instant-Kaffee, schaumig geschlagen, kühl und süß. Zu sagen haben sie sich nicht viel. Wir lauschen dem Klacken der Komboloi, einer Art Perlenkette, die hier fast jeder Mann in der Hand hält und die alles sein kann: Zigarettenersatz, Gesprächsersatz, Arbeitsersatz. Klack, klack, klack, das ist der Takt des kretischen Lebens. Wir bestellen Frappé und dösen mit. Das Tempo gefällt uns. Irgendwann steht die Sonne hoch über den Baumkronen. Die Zeit vergeht doch, der Schatten wandert an unseren Füßen vorbei. Klack, klack, klack. Ein Auto kreuzt den Schatten und hält direkt vor dem Café. Der Mann, der aussteigt, ist hager, sein Gesicht sieht aus wie abgegriffenes Leder. Er habe Olivenbäume beschnitten, erzählt er und schlürft den Schaum von seinem Bier. Er spricht englisch mit französischem Akzent, er freut sich über Touristen. Sie bringen Abwechslung. Marco, ein Franzose, kam in den Siebzigern nach Kreta, wie so viele, denen der langsame Takt hier mehr behagte als das Tempo in Nordeuropa. Er schlief in den Höhlen von Matala, das machten die Hippies damals so, und arbeitete mal hier, mal dort. Inzwischen wohnt er in einem Haus, das der Gemeinde gehört. Die Kirche zahlt sein Essen, im Café trinkt er umsonst. Er gehört zur Familie. Und die Familie ist wichtig in Griechenland. Dafür hilft Marco auch mal bei einem kretischen Schwindel. Die Gemeinschaft zahlte Subventionen für die Schafe, und so brauchte jeder Bauer möglichst viele. Marco trieb die Tiere von Weide zu Weide, immer dorthin, wo der Zählmeister der EU gerade war. Wie viele Schafe es in Sivas wirklich gibt? „Keine Ahnung“, lacht Marco. „Aber wir kümmern uns umeinander.“ Euro-Griechenland- EU-Gipfel-Merkel-Brüssel-Geld-Schulden-Staatsanleihen-Kredite-Krise. In Griechenland war der Staat noch nie ein besonders vertrauenswürdiger Genosse. Unter osmanischer Herrschaft erlebte das Volk ihn vor allem als Ausbeuter. Staat, das war Fremdherrschaft. Steuern zu hinterziehen war ein Akt des Widerstands. Der bayerische Prinz Otto von Wittelsbach war mal der König von Griechenland. Um die verschiedenen Stämme zur Gefolgschaft zu überreden, versprach er jedem einen Posten in der Regierung. Das Denken herrscht bis heute vor: Wer die Macht haben und erhalten will, muss sich seine Truppen gewogen halten. Auch die großen Parteien Nea Dimokratia und Pasok haben im selben Stil die Ministerien mit ihren Leuten besetzt. Doch die Geschenke, die sie ihnen versprachen, konnten sie sich gar nicht leisten. So viel erwirtschafteten die ehrlichen Bürger gar nicht.

LISTAROS
18. Oktober
„Jetzt werden wir bestraft, und nicht die, die das Geld aus dem Land geschafft haben“, sagt Sylla. Die Café-Besitzerin ist wütend, dass der griechische Staat die Steuersünder nicht verfolgt, die Reichen, die ihren Reichtum in die Schweiz gebracht haben sollen. „Wo ist die Lagarde- Liste?“ fragt sie bei unserem Besuch in ihrem Kafenion, das auch ihr politisches Basislager ist. Neben den Speisekarten stapeln sich Bücher. Sylla ist Mitglied der radikal-linken Partei Syriza, sie hat sich zu den Parlamentswahlen aufstellen lassen. Am meisten wünscht sie sich, dass der alte Klientelismus durchbrochen wird. „Wir brauchen Menschen, die um die Sache kämpfen, statt solchen, die in die Politik gehen, weil sie Vergünstigungen und Geschenke erwarten“, sagt sie.
Auch Sylla hasst den Staat, weil er das wenige Steuergeld, das bei ihm ankommt, verschwendet. „Wir kaufen so viele Waffen, die wir nicht brauchen“, sagt sie und lacht über die angebliche Bedrohung aus der Türkei, die als Rechtfertigung für den enormen Verteidigungsetat gilt. Den anderen europäischen Regierungen vertraut sie auch nicht. „Die EU will nicht, dass wir leben, sie will uns kontrollieren und unterdrücken.“
Auch Sylla spürt die Krise, weniger Gäste kommen. Die Touristen fliegen in die Türkei, oder nach Spanien, statt nach Kreta. Und die Einheimischen leisten sich seltener ein Essen auswärts. Zugleich steigen die Preise. Die Mehrwertsteuer wurde auf 23 Prozent angehoben, auch auf Speisen. Ein Liter Milch kostet 1,30 Euro, ein Liter Sprit fast zwei Euro. In Syllas Kafenion lodert ein Feuer im Kamin, die Ölheizung hat sie abgestellt, um Geld zu sparen. „In den letzten zwei Jahren hatten wir einen Reallohnverlust von 30 Prozent“, klagt sie. Der Mindestlohn wurde gesenkt, die Steuerfreibeträge reduziert. Die Sparmaßnahmen, sie zerstören die Mittelschicht, sie treffen nur die kleinen Leute, sagt sie.

Von Chania zurück nach Athen

CHANIA UND ELAFONISI
19. Oktober
Unsere Wirtschaft läuft, wir haben Geld und wir haben Urlaub. Wir beschließen, einen Ausflug zu machen, durch die Berge hoch nach Heraklion, an der Küste entlang der großen Hafenstädte. In Chania übernachten wir. Es ist so bezaubernd, wie es der Reiseführer versprochen hat. Alte Festungsmauern, venezianische Bauten und Sirtaki-Spieler in den Straßen. Eine Stadt, die auf Tourismus ausgelegt ist, trotzdem angenehm leer. Hier im Norden bleiben die Besucher aus. Die Deutschen kommen noch, die Engländer überlegen es sich. Sie haben selbst Krise.
An der Wand einer Bank entdecken wir das Hakenkreuzzeichen. „Hitler, Hitler!“, rufen uns die alten Männer hinterher, als wir fragen, was das Grafitti bedeutet. Gegen wen richtet sich das Symbol? Gegen Merkels Sparpolitik? Oder gegen die Einwanderer der Nachbarstaaten, die hier einst die billigen Jobs verrichteten und die jetzt misstrauisch beäugt werden. Die rechtspopulistische Partei „Goldene Morgenröte“ bekommt immer mehr Zulauf.
Der Weg nach Elafonisi gehört zu den schönsten der Insel. Man fährt durch das Gebirge, vorbei an Ziegen und Olivenhainen, und wenn man um die Kurve biegt, tut sich plötzlich das Meer auf, so schön, dass die Strände überlaufen sein müssen, denken wir. In Elafonisi haben sie den Strand auf Südsee getrimmt, mit Bambusschirmen und Piña Colada. Er ist leer.

MIRES
23. Oktober
Die Straße schlängelt sich aus dem kleinen Städtchen Mires ins Landesinnere, auf den flachen Hügeln stehen dicht an dicht die Olivenbäume. Wir wollen Olivenöl kaufen und wir wollen uns die Firma von Jorgos ansehen, die das meiste nach Deutschland verschifft. In der Lagerhalle, durch die Jorgos uns führt, stehen die Paletten feinsten Öles, abgepackt und fertig zum Transport – nach Russland. „Die kaufen mehr und mehr ein. Auch aus Solidarität“, erzählt Jorgos. „Aber die liebsten Geschäftspartner sind mir die Deutschen“, sagt der 23-Jährige, und lässt sich ins schwarze Leder seines Bürostuhls fallen. „Unsere beiden Länder verbindet eine lange Freundschaft.“
Er lässt uns Frappé bringen, für die Geschäftspartner stehen teure Whiskys und Wodkas auf einem Regal bereit. Jorgos, dessen Vater die Fabrik 1989 gegründet hat, kommt frisch von der Universität in Heraklion und ist einer der wenigen in seinem Freundeskreis, die Arbeit haben. Manche bitten ihn um Hilfe, doch er kann nichts für sie tun. Einige gehen, nach Australien, Österreich, Amerika.
Jorgos hat es zum Marketingchef gebracht, mit 26 Mitarbeitern. Er will die Firma groß machen, mehr Vertriebspartner finden, irgendwann nicht nur an Händler, sondern vielleicht auch an Supermärkte verkaufen. Er will griechisches Öl so beliebt machen wie spanisches, italienisches. „Die Qualität ist viel besser als sein Ruf“, sagt er. Auf der Ablage neben den Schnäpsen stehen seine Argumente. Preise, die seine Firma für ihr Öl gewonnen hat, daneben Zertifikate von der EU.
„Ich mag die Deutschen“, sagt Jorgos, der das Land selbst oft besucht hat. „Aber die Deutschen mögen uns Griechen nicht“, klagt er. Auch hier auf Kreta habe er das erlebt. Es gebe Deutsche, die ihre Rechnungen in der Taverne nicht bezahlen, weil sie sagen: „Ihr Griechen schuldet uns ohnehin Geld.“ Auch Jorgos glaubt nicht an den Staat. „Das Einzige, wofür wir nicht besteuert werden, ist das Atmen“, sagt er, und lacht. Er fürchtet um seine Generation, er hat Angst um seine Firma. „Alles Geld, das wir bekommen, geht an die Banken, und nicht an die Menschen“. Was ist, wenn Griechenland den Euro verlassen muss? „Dann ist meine Firma nichts mehr wert“, fürchtet Jorgos. Zum Abschied schenkt er uns das Olivenöl, das wir kaufen wollten. Unser Geld wehrt er ab. „Das ist Griechenland, das gehört zu unserer Kultur.“
ZAROS
25. Oktober
Der letzte Abend auf Kreta. Wir fahren noch einmal durch die Berge. Dort treffen wir Elena und ihren Mann. Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer. Unter den niedrigen Decken klebt der Schimmel, das Sofa ist speckig, die Matratzen durchgelegen. Fünf Kinder springen darauf herum. Elena hält ein Baby im Arm. Sie sieht müde aus und zu alt für ihre 29 Jahre. Das Baby weint viel. Es hat einen Leistenbruch, es muss operiert werden, sagt Elena, und dass der Arzt im Krankenhaus 150 Euro von ihr dafür haben will, dass er sich das Baby ansieht. Doch die Milch ist teuer, die Kinder gehen ohne Frühstück in die Schule. Mittags gibt es Nudeln. Wenn sie welche hat. Was, wenn Regina nicht wäre? Die Österreicherin lebt im Nachbardorf. Von zu Hause bekommt sie eine kleine Rente. Wann immer sie kann, steckt sie der Familie ein paar Euro zu. Für Elena ist das viel.
Regina kam der Liebe wegen nach Griechenland. Sie hatte sich in Elenas Vater verliebt. Er hat für sie seine Frau verlassen. Später hat er auch Regina verlassen. Jetzt sitzt sie neben Elenas Mutter auf dem speckigen Sofa. Die Österreicherin und die Griechin. Sie haben ihren Stolz gezähmt und ihren Streit begraben. Was zählt, sind die Kinder. Elena bietet uns Kaffee an. Mit Milch. Auch das ist Europa.

HERAKLION
26. Oktober

Wir gehen an Bord der Fähre nach Athen und blicken aufs offene Meer. Unsere Reise hat uns die Krise nicht erklärt, sie hat uns nur einen Ausschnitt gezeigt. Aber wir haben verstanden, dass die Auflagen der EU hier kaum funktionieren. Nicht, solange das Land von Politikern regiert wird, die nur ihren Cliquen dienen statt dem Volk. Und nicht, solange die Menschen nicht von den Regierenden und sich selbst verlangen, endlich für alle zu handeln. Aber wer soll das ändern? Die EU? Hätte sie Griechenland aus dem Euro werfen sollen? Vielleicht wären die Menschen dann so verarmt, dass sie den Aufstand geprobt hätten, ein neues System geschaffen hätten. Doch darf die EU einfach dabei zusehen, wenn ein Staat zerfällt? Europas Versprechen ist der Frieden und die Wahrung der Menschenwürde. Verrät es dieses Versprechen, um den Wohlstand in Deutschland und anderen Ländern zu bewahren, verliert es seine Existenzberechtigung. Europa darf nicht mit Griechenland brechen.

ATHEN
27. Oktober
Noch ein paar Stunden, dann geht das Flugzeug nach Deutschland. Wir könnten es nochmal mit der Akropolis versuchen. Wir können uns aber auch einfach in die Sonne setzen und Frappee trinken. Mit der griechischen Kellnerin plaudern, deren Mutter aus Tschechien stammt und deren Bruder in Schweden arbeitet, weil er dort als Ingenieur mehr Geld verdient. Klack, klack, klack, machen die Komboloi. Es gibt ein Europa. Es hat zwei Geschwindigkeiten. Zum Glück.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false