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Wirtschaft: Gundula Gabriel

(Geb. 1936)||Mach dein Abitur! Ohne Abitur ist man kein Mensch.

Mach dein Abitur! Ohne Abitur ist man kein Mensch. Winnie, Wivi, Wicki sollten ihre Töchter heißen. Da hätten die Leute schon mal aufgehorcht. Please welcome Gundula Gabriel and her fabulous girls Winnie, Wivi and Wicki! Hätten sie keine Silbe ändern müssen im Falle einer Showkarriere. In die Welt gekommen ist schließlich nur Winnie. Ihren seltenen Namen nach einer Figur von Beckett empfindet die einzige Tochter als Auszeichnung. Gemeint war der Name auch als Ansporn: Sei etwas Besonderes! Gib dich nicht mit dem zufrieden, was andere schon erreicht haben. Und vor allem: Mach dein Abitur! Ohne Abitur ist man kein Mensch. Winnie hat die Schule nach der zwölften Klasse geschmissen. Gundula hatte schließlich auch kein Abitur, als sie die Schule verließ.

In den Fotoalben, die aus Gundulas Leben erzählen, stecken viele Porträts junger stolzer Männer, deren Namen Winnie nicht kennt. Einige tragen Blumen am Revers oder fremdartige Medaillen um den Hals, andere amerikanische Uniformen. Es sind Fotos aus den fünfziger Jahren. Die jungen Männer traf Gundula in London, Karatschi oder an der Côte d’Azur. Sie hatte ihr Dolmetscherdiplom gemacht und fuhr in die Welt, um ihr Können zu verfeinern. Da war sie 19. Der Mann aus Karatschi nannte sie „My dearest Gipsy“. Ein paar Seiten weiter im Album steckt eine Autogrammkarte des Schauspielers Max Strassberg. „Meinem süßen ...“ – der Rest ist unleserlich.

Gundula trägt auf den Fotos meistens geblümte Kleider, lockengewickelte Haare und ein verlegenes Lächeln. Ihr Gesicht ist wie aus Porzellan.

1960 wird ein wichtiges Jahr. Gundula verliebt sich und wird schwanger. Im Dezember ist Hochzeit. Im Januar wird das Kind geboren. Es ist tot. Damit ist der äußere Anlass zur Eheschließung hinfällig geworden.

Winnie weiß nicht viel aus dieser Zeit. Sicher ist nur, dass es viele gemeinsame Reisen gab, nach Marokko oder zur Fußball-WM nach England. Und es gab Ausflüge, die jeder für sich unternahm, Fluchtversuche aus dem Eheleben. In dieses emotionale Minenfeld hinein wird Winnie geboren, die Wunschtochter. Zwei Jahre später, 1971, wird die Ehe geschieden.

Gundula unterrichtet seit Jahren Steno und Schreibmaschine. Das reicht ihr jetzt nicht mehr. Sie macht das Abitur nach und studiert. Germanistik und Anglistik. So lange, bis sie ihre Fächer am Oberstufenzentrum unterrichten darf. Für ihre Tochter tut sie alles und manchmal auch zu viel. Winnie fängt an mit Reiten, hört wieder auf, lernt drei Instrumente, beginnt, Tennis zu spielen und hört wieder auf. Gundula ermutigt zu immer neuen Anstrengungen, aber Winnie will das alles nicht. Nachrichtensprecherin im Fernsehen könnte sie werden, schlägt Gundula vor, aber Winnie hört gar nicht mehr hin.

In Italien ist der Zwist wie weggeblasen. „Wenn wir über die Alpen sind, bist du ein anderer Mensch“, sagt Gundula zu Winnie. Drei Mal fahren sie mit dem Auto bis nach Sizilien und lassen alles Vergangene zurück.

Gundula legt Wert auf einen gewissen Lebensstandard. Auf Reisen darf es gern ein Hotel der gehobenen Klasse sein. Weil ihr Konto diesem Niveau nicht gewachsen ist, nimmt Gundula vor jeder Reise einen Kredit auf und gibt hinterher Sprachkurse an der Volkshochschule.

Gundula verteidigt ihre Unabhängigkeit. Die Männer, die sie abschnittsweise begleiten, hält sie auf Distanz. Als sie 50 ist, hat sie ein Verhältnis mit einem jüngeren Sizilianer. Ihre Liebe ist diesmal stärker als ihr Stolz. Sie probiert eine neue Frisur, neue Kleider, aber der Sizilianer verlässt sie trotzdem. Es fällt ihr schwer zu akzeptieren, dass sie langsam den Preis für ihre Unabhängigkeit zahlen muss.

Gundula möchte, dass es so wie früher ist, aber so wird es nie mehr sein. Sie wird pensioniert, arbeitet aber weiter, um Kredite abzuzahlen. Von den kleinen Katastrophen, die sich in ihrem Kopf abspielen, weiß noch niemand. Es schleichen sich logische Fehler in ihren Alltag. Bald wird der Alltag zunichte und Gundula muss ins Pflegeheim. Es waren viele kleine Schlaganfälle, die ihr Gehirn langsam zerstörten. Keiner weiß, wann das mal angefangen hat.

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