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Wirtschaft: Gutachter: Reformpläne reichen nicht

Im Frühjahrsgutachten wird die durchschnittliche Arbeitslosigkeit mit rund 4,5 Millionen prognostiziert

Berlin (brö). Die schwache Konjunktur wird nach Einschätzung der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute die Lage auf dem Arbeitsmarkt in den kommenden Monaten weiter verschärfen. 2004 dürften im Schnitt 4,5 Millionen Menschen in Deutschland eine Stelle suchen, erklärten die Ökonomen am Dienstag in Berlin. Die ArbeitsmarktReformen der Regierung dürften vorerst ohne Wirkung bleiben. Um die Beschäftigung zu steigern, seien tiefer greifende Reformen nötig, hieß es.

Im Frühjahrsgutachten schreiben die Institute, die deutsche Wirtschaft „verharrt in einer lang anhaltenden Schwächephase“. Im derzeit laufenden zweiten Quartal 2003 sei wegen des Irak-Kriegs sogar mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung gegenüber dem Vorquartal um 0,1 Prozent zu rechnen. Ab Sommer werde es eine schleppende Belebung geben, die auch 2004 ohne große Dynamik bleibe. In diesem Jahr dürfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,5 Prozent wachsen, 2004 um 1,8 Prozent.

Das bedeute, dass die Arbeitslosigkeit weiter ansteigen werde, befürchten die Fachleute – auf 4,45 Millionen in diesem Jahr und auf 4,5 Millionen im folgenden. Darunter werde vor allem der Osten zu leiden haben, wo 18,3 Prozent der Erwerbsfähigen einen Job suchen dürften. Die Arbeitslosigkeit werde dazu führen, dass Deutschland in diesem Jahr erneut mehr Schulden aufnehmen müsse als vom EU-Stabilitätspakt erlaubt.

Auch die Arbeitsmarkt-Reformen der Bundesregierung könnten dies nicht verhindern, befinden die Wirtschaftsforscher. „Der Netto-Effekt der Hartz-Gesetze liegt irgendwo in der Nähe von Null“, sagte Gustav Horn vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), einer der Gutachter. Zwar würden durch die Neuregelungen insgesamt 50 000 Arbeitsplätze entstehen – die meisten davon durch die Personal-Service-Agenturen, die Arbeitslose per Zeitarbeit an Unternehmen verleihen sollen. Im Gegenzug gebe es jedoch „Mitnahmeeffekte“ – etwa bei vom Arbeitsamt geförderten Niedriglohnjobs. Auch bestehe die Gefahr, dass Existenzgründer, die sich mit Hilfe einer Ich-AG oder des Programms „Kapital für Arbeit“ selbstständig gemacht hätten, andere, nicht geförderte Firmengründer verdrängen würden. Ein Übriges tue die Streichung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM).

„Die Wirkung des Hartz-Konzeptes ist stark überschätzt worden“, sagte Eckhard Wohlers vom Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA). An der Wachstumsschwäche, der mangelnden Qualifikation vieler Arbeitsloser und den hohen Lohnnebenkosten hätten diese Gesetze nichts geändert. Erst mittelfristig werde eine effizientere Vermittlung den Arbeitsmarkt entlasten.

Aus diesem Grund begrüßten die Institute die Pläne von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Rahmen der umstrittenen Agenda 2010. Allerdings könnten die Vorhaben nur „erste Ansatzpunkte“ sein, fand Joachim Scheide vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). So müsse bei der Rente noch „eine ganze Menge getan werden“, um einen Anstieg der Sozialbeiträge zu verhindern. „Mit Kleinigkeiten kommen wir da nicht weiter.“ Arbeitende müssten deutlich mehr in der Tasche haben als Sozialhilfeempfänger, um die Anreize zur Jobsuche zu erhöhen.

Kritik übten die Forscher an der geplanten Ausgliederung des Krankengeldes aus der Sozialversicherung. Es sei ein „Skandal“, dass Leistungen gekürzt würden, bevor nicht Ineffizienzen und unberechtigte Gewinne von Ärzten und Pharma-Industrie beseitigt seien, sagte DIW-Fachmann Horn. Außerdem bestehe die Gefahr, dass Menschen sich nicht ausreichend absichern würden, wenn sie selbst vorsorgen müssten.

Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) nannte die Vorhersagen der Institute zu pessimistisch. Sie „unterschätzen die Dynamik unserer Arbeitsmarktreformen“, erklärte er in Berlin. An den neuen Mini- und Midi-Jobs und der Selbstständigkeit im Rahmen der Ich-AG geb es großes Interesse. Die Reformen des Kanzlers müssten nun rasch umgesetzt werden. Die Grünen-Haushaltspolitikerin Antje Hermenau wertete das Gutachten als neuerlichen Beweis für den Handlungsdruck. Dem Tagesspiegel sagte sie, der Finanzierungsdruck sei nun „so groß, dass die Reformen keinen Aufschub dulden“. Dagegen bezeichnete CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer die Analyse der Institute als „erschreckend“. Es bestehe jetzt die Gefahr, dass die Reformansätze von der SPD „zerfetzt“ würden und die deutsche Wirtschaft am Ende nur stagnieren werde.

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